9. Das königliche Gefängnis
10. Evangelisches Leben in Anrath
11. Erster Weltkrieg und Weimar
12. Anrath im Nationalsozialismus
9. Preußische Wirtschaftsförderung – Das königliche Gefängnis
Tafel 22
1898 beschloss die preußische Regierung, als gezielte Entwicklungsmaßnahme für das durch die Krise der Textilwirtschaft verarmte Anrath ein Gefängnis zu bauen. Dafür erwarb sie im Jahr darauf vom Landwirt Hammes ein neun Hektar großes Stück Land im Norden der Gemeinde. Mit den Bauarbeiten wurde im Mai 1900 begonnen.
1902 war das “Weibergefängnis” fertiggestellt, zwei Jahre später auch das Männergefängnis. Umgehend wurden 546 Inhaftierte aus der völlig überlasteten Haftanstalt Düsseldorf-Derendorf nach Anrath verlegt, 1906 wurde der Frauentrakt mit 211 Gefangenen aus Lingen im Emsland belegt.
Beide Anstalten dienten bis 1933 der Verbüßung von Gefängnisstrafen und waren meist nicht vollständig belegt. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden dann auch zunehmend politische Gefangene in Anrath untergebracht und von dort aus später in die Konzentrationslager geschickt. Nach Kriegsende wurden sogenannte “Displaced Persons”, also befreite Zwangsarbeiter einquartiert, um die Zeit bis zur Rückkehr in ihre jeweilige Heimat zu überbrücken.
1977 wurde im Frauengefängnis ein offener Vollzug eingerichtet, 1985 für diesen Zweck ein eigenes Gebäude mit 57 Plätzen fertiggestellt. Im selben Jahr wurde die bisher dem Männerhaus als Abteilung angegliederte Frauenanstalt unter der Bezeichnung “JVA Willich II” selbständig.
Im Februar 2004 beschloss das Justizministerium den Bau eines neuen, 191 Haftplätze bietenden Frauengefängnisses auf dem Gelände der Anrather Anstalt. Dies setzte aber den Abriss von denkmalgeschützten Gebäuden voraus, was zu Protesten aus der Anrather Bevölkerung, aber auch des Willicher Stadtrates führte. Die Bezirksregierung beschloss dennoch den Abriss der Häuser. Im September 2009 konnte das neue Frauengefängnis bezogen werden.
Beide Komplexe wurden im romanischen Stil errichtet. Die kreuzförmige Vierflügelanlage des Männergefängnisses bildete den Mittelpunkt der Anlage, ihr gegenüber lag das wesentlich kleinere, T-förmige Weibergefängnis. Um diese beiden Gebäude gruppierten sich die 23 Wohnhäuser der Bediensteten. Die Gesamtkosten für den Bau des Königlichen Gefängnisses beliefen sich auf rund 2.750.000 Mark.
Bernhard Burgstaller, auch Petrus Burgstaller (* 14. Februar 1886 in Eidenberg; † 1. November 1941 in Anrath) war Zisterzienser und wurde 1938 Abt des Stifts Wilhering. Er starb 1941 in nationalsozialistischer Haft.
Der aus einer Bauernfamilie stammende Burgstaller trat 1905 in die Zisterzienserabtei Wilhering ein. Er wurde 1910 zum Priester geweiht, 1915 promovierte er zum Doktor der Philosophie und unterrichtete bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten im September 1938 am Stiftsgymnasium Wilhering Latein und Griechisch. Im November 1938 wurde er zum Abt des Stiftes Wilhering gewählt. Als solcher versuchte er, sich der Drangsalierung seiner Abtei durch die Nationalsozialisten zu erwehren. Nach der Entdeckung einer Widerstandsgruppe, der auch Zisterzienser aus Wilhering angehörten, wurde er am 12. November 1940 in Wien verhaftet und später in das Gefängnis Anrath bei Krefeld überstellt und dort systematisch ausgehungert. Er starb am 1. November 1941 an Unterernährung. Er war der einzige österreichische Abt, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Mehr zur Geschichte des Anrather Gefängnisses im Anrather Gefängnismuseum: www.gefaengnismuseum.de
Tafel 23
10. Evangelische Kirche
Tafel 24
Die Zahl der evangelischen Christen war vor der Französischen Revolution sehr gering. 1843 gab es zwar über 10.000 Protestanten im Landkreis Krefeld – jedoch keinen einzigen in Anrath. 1885 ist immerhin schon von sieben Bürgern evangelischen Glaubens die Rede. Dies änderte sich erst mit der Ansiedlung größerer Industriebetriebe und dem Bau des Zuchthauses. Im Jahre 1904 gab es in Anrath bereits 130 evangelische Christen.
Am Reformationstag 1906 hielt der neu ernannte Gefängnispfarrer Karl Echternach in einem angemieteten Raum an der Jakob-Krebs-Straße den ersten evangelischen Gottesdienst ab. Dies war die Initialzündung: ein “Evangelischer Verein in Anrath” wurde gegründet, aus dem der Kirchbauverein hervorging. Schon 1905 konnte eine Parzelle erworben, am 6. März 1910 der Grundstein der Evangelischen Kirche gelegt werden. Zum Bau des Gotteshauses steuerten die Provinzialsynode 8.000 Mark und der Oberkirchenrat 5.000 Mark bei. Dazu kamen zahlreiche Spenden der Gustav-Adolf-Vereine im Rheinland, Westfalen und Sachsen.
Am Reformationstag 1910 wurde die Kirche eingeweiht. Pfarrlich gehörte die Gemeinde allerdings weiterhin zu Krefeld und wurde vom jeweiligen Anrather Gefängnispfarrer mitbetreut.
Nachdem während des Dritten Reiches die Zahl der Kirchenbesucher stark zurückgegangen war, schwoll die Zahl der evangelischen Bewohner Anraths durch den Zuzug vieler Flüchtlinge aus den Ostgebieten nach 1945 stark an. Diesem Umstand Folge leistend erhielt Anrath 1950 mit Ekkehard Götz erstmals einen eigenen Pfarrer – wenn auch nur kommissarisch. Mit Wirkung vom 1.Oktober 1952 wurde dann endlich die Evangelische Kirchengemeinde Anrath-Vorst gegründet. Zeitweilig gehörten auch die evangelischen Neersener dieser Gemeinde an.
1989 beschloss das Presbyterium den Bau eines Anrather Gemeindezentrums, das im April 1992 eingeweiht wurde und seitdem für die zahlreichen Aktivitäten der Gemeinde zur Verfügung steht. Aus den sieben evangelischen Christen im Jahre 1885 sind übrigens inzwischen rund 2.500 geworden.
11. Erster Weltkrieg und Weimarigliche Gefängnis
Tafel 25 – Das Ende des Kaiserreichs
Anrath im Ersten Weltkrieg
Wie überall in Deutschland zogen die Anrather begeistert in den Krieg und die anfänglichen Erfolge verstärkten die Euphorie nochmals. Den Krieg bekam man nur aus der Ferne mit, neugierig wurden sowohl die eigenen als auch die gegnerischen Soldaten beäugt:
Im Anrather Gefängnis wurden zwischen 1915 und 1918 insgesamt 1.258 Gefangene untergebracht. 15 belgische und 8 französische Soldaten verstarben dort und wurden auf dem Anrather Friedhof beigesetzt. Das Lorenz-Hospital diente während des ganzen Krieges als Lazarett für deutsche Soldaten.
Die Stimmung in der Bevölkerung kippte vor allem durch die schlechter werdende Versorgungslage und die ständig steigenden Verlustzahlen.
Trotzdem wirkte die Kapitulation von 1918 wie ein Schock, zuerst zogen die besiegten deutschen Truppen durch den Ort, am 9. Dezember traf ein Vorkommando der belgischen Besatzungstruppen in Anrath ein. Die Kaiserzeit war zu Ende, eine neue Epoche begann.
Anrath in der Weimarer Republik
Am Morgen des 10.Dezember 1918 durchzogen belgischen Truppen von Viersen kommend mit gellender Hörnermusik das Dorf. Am Nachmittag des gleichen Tages rückten dann die für Anrath bestimmten Besatzungsgruppen ein und der Ortskommandant Major Demolder übernahm die Befehlsgewalt. Er richtete seine Kommandantur im Hause Lücker an der Viersener Straße ein. In den folgenden Wochen und Monaten kam es zu etlichen folgenschweren Zusammenstößen zwischen belgischen Soldaten und der Zivilbevölkerung. Das Verhältnis blieb auch in den folgenden Jahren gespannt.
Eine besondere Farce war der sogenannte Separatisten-Aufstand des Jahres 1923. Mit Unterstützung der Besatzungstruppen versuchten diese, die Macht im Rheinland zu übernehmen, dieses aus dem preußischen Staat zu ziehen und eine rheinische Marionetten-Republik zu gründen. Auch in Anrath versuchten die Separatisten ihr Glück – ihr Ziel war die Übernahme des Gefängnis. Doch als sie von den Beamten der Anstalt auf der einen sowie den Arbeitern von Lange und Krebs auf der anderen Seite in die Mangel genommen wurden, zogen sie unverrichteter Dinge wieder ab.
Das Jahr 1923 blieb jedoch nicht nur wegen der Separatisten in Erinnerung: es war auch das Jahr der großen Inflation. Nicht nur Städte und Gemeinden, sondern sogar Unternehmen druckten eigenes Notgeld. Die Seidenweberei Lange brachte es auf Geldscheine von sage und schreibe 100 Milliarden Mark.
Nach der Währungsreform im November 1923 und der Überwindung der Wirtschaftskrise setzte eine Phase der inneren Stabilisierung ein. Am 1.Februar 1926 wurde dann auch endlich die Räumung des Rheinlands bekannt gegeben – die Zeit der belgischen Besatzung war vorbei!
Bürgermeister Heinrich Neusen, seit 1908 im Amt, trieb in diesen Jahren einige Projekte voran: So wurde 1925 der neue Friedhof angelegt, im Jahr darauf das Altenheim an der Viersener Straße eingeweiht und 1928 die Gemeindegaststätte Haus Donk errichtet. Es war jedoch nur eine kurze Zeit der Konsolidierung, denn schon bald legte sich der Schatten des Nationalsozialismus auch auf Anrath.
12. Anrath im Nationalsozialismus
Tafel 26
Machtübernahme
Am 7. März 1933 wurde auf dem Anrather Rathaus erstmals die Hakenkreuzfahne gehisst. Es war das sichtbare Zeichen dafür, dass sich die politischen Verhältnisse in Deutschland massiv gewandelt hatten und auch für die Anrather eine neue, ungewisse Zeit anbrach.
Viele Jahrzehnte lang war das Zentrum die bestimmende politische Kraft gewesen. Noch bei der Reichstagswahl im November 1932 hatte es 52,4 Prozent der Stimmen gewonnen, die NSDAP gerade einmal 21,9 %. Und selbst bei der letzten freien Wahl am 5.März 1933, die bereits im Zeichen massiver brauner Propaganda stand, holte die NSDAP in Anrath nur 32,9 % der Stimmen, das Zentrum dagegen 47,5 %.
Die NSDAP konnte in Anrath mit seinem traditionell katholischen Milieu zu keinem Zeitpunkt aus eigener Kraft eine absolute Mehrheit erzielen. Im Gegenteil – sie war Lichtjahre davon entfernt. Dazu passt die Tatsache, dass der örtliche Stützpunkt der NSDAP gerade einmal 40 “Parteigenossen” umfasste – bei rund 5.300 Einwohnern. Das hinderte die wenigen überzeugten Nationalsozialisten jedoch nicht daran, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Sie übten fortan massiven Druck auf die lokale Verwaltung, vor allem aber auf die Kirchen aus.
In vielen Gemeinden gelang es den Nationalsozialisten innerhalb kurzer Zeit, den amtierenden Bürgermeister aus dem Amt zu jagen und den Posten mit einem Gefolgsmann zu besetzen. In Anrath stießen sie jedoch auf Heinrich Neusen, einen erfahrenen Verwaltungsfachmann, der durch sein überlegtes Handeln den neuen Machthabern keine oder nur wenig Angriffsfläche bot. Durch die Duldung des Hissens der “neuen” Fahnen auf dem Rathaus am und der Umbenennung des Marktplatzes in Adolf-Hitler-Platz nahm er den Nationalsozialisten den Wind aus den Segeln. In den folgenden Jahren dominierte er unangefochten die Verwaltung, bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1943.
Reichstagswahlen am 14. September 1930 [1] | |||||||
Abgeg. gültige Stimmen | Zentrum | NSDAP | KPD | SPD | DNVP | Sonstige [2] | |
Anrath | 2.511 | 1.011 (40,3 %) | 505 (20,1 %) | 165 (6,6 %) | 104 (4,1 %) | 76 (3,0 %) | 650 (25,9 %) |
Preußische Landtagswahl am 24. April 1932 [3] | |||||||
Abg. gültige Stimmen | Zentrum | NSDAP | KPD | SPD | DNVP | Sonstige | |
Anrath | 2.419 | 1.320 54,6 % | 645 26,7 % | 160 6,6 % | 64 2,6 % | 54 2,2 % | 176 7,3 % |
Reichstagswahl am 31. Juli 1932 [4] | |||||||
Anrath | 2.654 | 1.489 56,1 % | 609 23,0 % | 340 12,8 % | 97 3,6 % | 74 2,8 % | 45 1,7 % |
Reichstagswahl am 6. November 1932 [5] | |||||||
Anrath | 2.431 | 1.274 52,4 % | 531 21,9 % | 453 18,6 % | 75 3,1 % | 66 2,7 % | 32 1,3 % |
Reichstagswahl am 5. März 1933 [6] | |||||||
Stimm- berechtigt | Wahl- beteiligung | Zentrum | NSDAP | Kampffront Schwarz- Weiß-Rot | KPD | SPD | Sonstige |
Anrath 3.200 | 2.858 89,3 % | 1.358 47,5 % | 942 32,9 % | 165 5,8 % | 267 9,4 % | 91 3,2 % | 35 1,2 % |
Kommunalwahl vom 12. März 1933 [7] | |||||||
Wahl- berechtigte | Wahl- beteiligung | Zentrum | NSDAP | KPD | SPD | Bürger- block | Sonstige |
Anrath 3200 | 2.338 73,0 % | 935 (7) 40,0 % | 927 (7) 39,6 % | – | 123 (1) 5,3 % | 353 (3) 15,1 % | – |
[1] NVZ vom 15. September 1930.
[2] Hierunter sind vor allem die 1930 noch recht starken bürgerlichen bzw. liberalen Parteien zu nennen (Wirtschaftspartei, DVP, DDP/DStP), die dann 1932 kaum noch nennenswerte Ergebnisse erzielten.
[3] NVZ vom 25. April 1932.
[4] Niederrheinisches Tageblatt vom 1. August 1932.
[5] Ebd. vom 7. November 1932.
[6] NVZ vom 6.3.1933.
[7] Ebd. vom 13.3.1933; für Willich: WVZ vom 15.3.1933 (Mitteilung von Herrn Peter Schulmeister Willich).
Der Kampf gegen die Kirche
Die Anrather Nationalsozialisten wussten, dass sie zwar sehr viel Macht, aber letztlich nur wenig Autorität besaßen. Diese lag nach wie vor bei der katholischen Kirche. So ließ insbesondere Ortsgruppenleiter Plöcks nichts unversucht, um vorrangig dem Klerus das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Im Wortlaut:
Seit einiger Zeit ist die Propaganda der hiesigen katholischen Kirche wieder einmal besonders rege. Ich gebe Ihnen beiliegend einige Unterlagen, die den eingeschlagenen Weg der Pfaffen gut erkennen lassen. [] Die Kirche sammelt scheinbar schon jetzt ihre Schäflein, um nach Kriegsende in dem kommenden, wie wohl auch diese Brüder wissen, unausbleiblichen Kampf ihre Heerscharen möglichst groß zu haben. Selbstverständlich werden diese Aufforderungen zum Zusammenschluss in diesem Ort zum Teil befolgt, zumal von uns keine Gegenpropaganda der Öffentlichkeit gegenüber gemacht werden kann..Bericht des Ortsgruppenleiters Plöcks vom 19. März 1941 an die Kreisleitung
So wurde der beliebte Kaplan Johann Heinrich Zimmermann auf Ersuchen der NSDAP-Kreisleitung am 27. Februar 1934 versetzt und sein Nachfolger Arthur Füsser im November 1935 von der Staatsanwaltschaft Krefeld wegen Abhaltung eines Jungmännerabends nachdrücklich verwarnt. Nur wenige Monate später, im März 1936, ermittelte die Gestapo gegen den anderen Anrather Kaplan, Friedrich Bechstein. Dieser hatte von der Kanzel der Gemeinde untersagt, einen Vortrag des NS-Propagandisten Ludwig Münchmeyer zu besuchen.
1941 trat der gerade erst zum Priester geweihte Josef Kamphausen seine erste Kaplansstelle an. Die Gestapo-Außenstelle Krefeld ließ ihn beobachten und charakterisierte ihn wie folgt: Er ist ein eifriger Verfechter des politischen Katholizismus, der es versteht, insbesondere die katholische Jugend in Anrath zusammenzuhalten und dadurch die Arbeit der HJ zu erschweren.
Im Sommer 1942 bestanden die beiden von ihm geleiteten Gruppen aus 30 Jungen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Er führte mit ihnen religiöse Abende durch, außerdem gemeinsame Wanderungen und Fahrradausflüge. Als äußeres Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit trugen die Jungen eine Art Uniform, und zwar ein grün gefärbtes Braunhemd, auch Windjacken, kurze schwarze Hose, Koppel und Leibriemen. Am 6. August 1942 wurde Kamphausen verhört, es blieb aber bei einem Ermittlungsverfahren. Von nun an blieb er jedoch ständig im Visier der Behörden.
Einer der wichtigsten Gradmesser der Nichtanpassung war die öffentliche Teilnahme der Dorfbewohner am kirchlichen Leben. Sowohl der rege sonntägliche Messbesuch als auch die Teilnahme an den Fronleichnamsprozessionen und Wallfahrten zeigte den braunen Lokalgrößen, dass sie trotz diktatorischer Machtfülle weltanschaulich eine Minderheit im Ort darstellten.
Eine dazu passende Quelle stellt ein Bericht der Ortsgruppe Anrath an die Kreisleitung dar:
“Solange noch Parteigenossen selbst die Kirche verteidigen, um dort ihren Tribut zu zollen, wähnen sich diese Leutchen scheinbar immer noch stark. Es gibt aber schon heute in der Ortsgruppe Anrath einen starken Stoßtrupp von Parteigenossen, die die Machenschaften dieser Leute durchschauen und sich voll zum Nationalsozialismus bekannt haben.”
Der Bericht stammt aus dem Frühjahr 1941 – acht Jahre nach der “Machtergreifung”. Mit dem “starken Stoßtrupp” dürften die wenigen wirklich überzeugten Nationalsozialisten gemeint gewesen sein, die es damals in Anrath gab.
Die örtlichen Parteiführer schreckten nicht einmal davor zurück, selbst Kindergartenkinder in die weltanschaulichen Auseinandersetzungen einzubeziehen. Am 25. März 1941 beklagte sich der NSV-Leiter Heinrich Nauen bei Bürgermeister Neusen darüber, dass die Kinder des NS-Kindergartens von den Kindern des benachbarten konfessionellen Kindergartens mit Schimpfnamen und Steinwürfen belästigt worden seien.
Am 9. Mai 1941 teilten die Leiterinnen des NSV-Kindergartens dem Ortgruppenleiter Plöcks in einem Schreiben mit, dass die von ihnen betreuten Kinder mehrmals von den Kindern des katholischen Kindergartens mit den Worten “NSV – dicke Sau” belästigt worden seien. Einmal sei dies sogar geschehen, als Schwester Josefine Schröer an der Tür stand und zuhörte. Sie habe aber den Kindern keineswegs Vorhaltungen gemacht. Da der Vorfall keine Konsequenzen nach sich zog, ist davon auszugehen, dass Bürgermeister Neusen im Hintergrund die Wogen glättete.
Am 12. November 1933 lässt sich das NS-Regime von der Bevölkerung legitimieren. Dabei hat der Bürger nicht mehr die Wahl zwischen mehreren Parteien, sondern soll nur noch mit der “Ja-Stimme” seine Unterstützung für Hitler kundtun. Die Wahl kann kaum noch als geheim bezeichnet werden. Zwar steht in einer Ecke des Wahlraums eine Kabine, doch wird von den anwesenden SA-Männern erwartet, dass man sein Kreuz öffentlich macht.
Noch am Abend der Wahl erhält jeder, der seine Stimme trotzdem in der Kabine abgegeben hat, einen frisch gedruckten Zettel unter der Tür durchgeschoben – so auch die Anratherin Rosalie Teuwen.
Der Zettel ist ein Zeugnis für die massive Einschüchterung von Andersdenkenden.
Tafel 27
Anrather Juden
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten dauerte es nicht lange, bis die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung begannen. Erstes Ziel der Hitler-Regierung war es, der jüdischen Bevölkerung die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen.
Das bekamen auch die katholische Josefine Derks und ihre jüdische Freundin Jenny Servos zu spüren. Sie besaßen ein florierendes Textileinzelhandelsgeschäft. Obwohl Jenny Servos bereits 1933 aus dem Geschäft ausschied, wurde es von den Nationalsozialisten weiter als “jüdisches Geschäft” angesehen. Die örtliche Parteileitung rief zum Boykott auf. Als diffamierende Sprüche wie “Hier herrscht der Jude” auf Schaufenster und Bürgersteig geschmiert wurden, erstattete Josefine Derks Anzeige. Bemerkenswerterweise wurden die ermittelten Täter im Sommer 1933 zu einer Geldstrafe verurteilt, die dann durch Sammlungen der örtlichen NSDAP aufgebracht wurden.
Am 13. Mai 1935 meldete die Metzgerei Witwe Simons auf behördlichen Druck hin ihr Gewerbe ab, am 3. Juli 1936 folgte Sieghard Cassel, der ebenfalls eine Metzgerei betrieben hatte. 1937 ordnete Landrat Odenthal an, dass die Anrather Albert Servos und Gustav Simons nicht mehr als Viehverteiler tätig sein durften.
Spätestens mit den Pogromen des November 1938 war für die Juden in Deutschland jede Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem menschenwürdigen Leben in ihrer angestammten Heimat zerstört. Aus dem Kreis der Bürger ausgestoßen, rechtlos und jeder wirtschaftlichen Lebensgrundlage buchstäblich beraubt, strebten nun Tausende danach, das Land so schnell wie möglich zu verlassen, ob mit Hab und Gut, war ebenso zweitrangig wie das Ziel. Es ging jetzt nur noch darum zu überleben. Während des Zweiten Weltkrieges zogen die Nationalsozialisten das Netz um die jüdische Bevölkerung immer enger. Am 31. Juli 1941 beauftragte Göring Heydrich mit der Endlösung der Judenfrage. Am 23. Oktober 1941 verhängte die Regierung ein Emigrationsverbot, damit gab es endgültig keine legale Ausreisemöglichkeit mehr – auch nicht für die 15 noch immer in Anrath lebenden Juden.
Sie wurden in den Jahren 1941 und 1942 nach Riga bzw. Theresienstadt deportiert.
Keiner von ihnen überlebte den Holocaust.
Die jüdische Gemeinde Anrath hatte ihren Betraum in diesem Gebäude an der Hindenburgstraße.
In der Pogromnacht wurde die Thorarolle entwendet und verbrannt. Das Haus wurde wohl deshalb nicht zerstört, weil dort auch eine “arische” Familie lebte.
Während des Krieges wurden in dem Haus polnische Kriegsgefangene untergebracht, in den 1960er Jahren wurde es abgerissen.
AUSGEWANDERT
Vor den Pogromen von 1938 waren nur zwei Anrather Juden ins Ausland emigriert – Minna Simons nach Hengelo in den Niederlanden und Hilde Servos nach New York.
Im Februar 1939 verließ Gustav Simons, der nach der Pogromnacht ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort misshandelt worden war, Anrath in Richtung Palästina.
Im Mai emigrierten Ella und Meta Servos nach Fowy in England.
Die letzten, denen es noch gelang, rechtzeitig auszuwandern, waren Ilse und Albert Servos mit ihren Kindern Kurt und Henny. Sie gingen nach New York.
DEPORTIERT
Am 11.Dezember 1941 verließ ein Zug Düsseldorf in Richtung Riga. In ihm befanden sich auch 124 Juden aus dem Kreis Kempen, unter ihnen die Anrather Friederika und Henriette Cohen, Berta und Moses Grünewald sowie Fritz, Herbert und Julius Servos.
1942 beschloss die Regierung, die noch in Deutschland lebenden älteren und “privilegierten” Juden in das KZ Theresienstadt in Nordböhmen zu verbringen. Am 25.Juli wurden auch die letzten acht noch in Anrath lebenden Juden von Krefeld aus dorthin deportiert:
Es waren Emmy und Sieghard Cassel, Emma Levy, Alfred, Gabriel, Max und Rosa Servos sowie Selma Simons.
Nach dem Krieg wurden alle Gemeinden von den Besatzungsbehörden aufgefordert, das Schicksal der einst hier lebenden Juden zu dokumentieren.
So wurde auch in Anrath eine Liste erstellt, die alle 1933 in der Gemeinde lebenden Juden umfasste.
Die zuständigen Amtsgerichte versuchten nach dem Krieg, durch Anfragen bei Behörden das Schicksal der im Gerichtsbezirk geborenen Juden zu ermitteln.
Äußerst makaber mutet in diesem Zusammenhang der Begriff “ausgewandert” an – wurden doch Berta und Moses Grünewald am 10.12.1941 nach Riga und damit in den sicheren Tod deportiert.
Tafel 28
Beim Kriegsausbruch am 1.September 1939 unterschied sich die Stimmung in der Bevölkerung deutlich von der patriotischen Begeisterung des Jahres 1914. Zumal der Krieg vom ersten Tag an deutlich und unmittelbar in das tägliche Leben der Menschen eingriff: Einberufungen, Einquartierungen, Einführung von Bezugskarten für Lebensmittel, Kleider und Verbrauchsgüter, Maßnahmen zum Luftschutz.
Mit Eröffnung der Kampfhandlungen im Westen im Mai 1940 kam der Krieg auch direkt nach Anrath: am 11.Mai wurde Mönchengladbach bombardiert, am 22.Mai Krefeld. Verschiedene Angriffe galten der Bahnlinie zwischen beiden Städten, so dass auch die angrenzenden Anrather Außenbezirke in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die mit Abstand größten Schäden erlitt die Gemeinde in der Nacht vom 8. auf den 9.April 1943: Bei einem nur wenige Minuten dauernden Bombenangriff wurden Teile der Viersener und vor allem der heutigen Jakob-Krebs-Straße verwüstet: Sieben Häuser wurden zerstört, 150 Anrather obdachlos. Der 86jährige Johannes Heisters fand in den Trümmern seines Hauses den Tod. Auch die Kirche wurde getroffen, dabei gelang es dem Kaplan Meurers, aus der brennenden Sakristei die die Priestergewänder zu retten.
Anrather Geheimlosung
Je näher die Front im Herbst 1944 rückte, desto intensiver forderten die NS-Behörden die Bevölkerung auf, sich auf die rechte Rheinseite zu begeben.
Der Großteil der Bevölkerung widersetzte sich dieser Zwangsevakuierung. In Anrath existierte damals eine geheime Losung, mit der man seinen Willen kundtat, der Aufforderung von Ortsgruppenleiter Plöcks nicht Folge zu leisten:
“Liever en Canada Banane schuffele”
Tatsächlich ließen sich nur wenige Anrather bis Kriegsende auf die rechte Rheinseite evakuieren – unter ihnen war vor allem die lokale NS-Führung.
Nach dem Untergang der 6.Armee in Stalingrad spürte die Bevölkerung, dass der Krieg verloren war, und im Juni 1944 notierte der Neersener Lehrer Josef Herlitz: “In der Bevölkerung herrscht Resignation, stille Verzweiflung, viele sind betäubt unter den Hammerschlägen des Schicksals.” Hitlers Krieg sollte letztlich 217 Anrather Soldaten und 10 Zivilisten das Leben kosten, dazu kamen 206 Vermisste.
Die Besetzung Anraths in der Nacht vom 1. auf den 2. März 1945 erfolgte von Viersen aus durch amerikanische Truppen. Nachdem es diesen gelungen war, die Niersbrücke am Grenzweg zu nehmen, nutzten sie die Gunst der Stunde und rückten noch am Abend nach Anrath vor.
Auf diesen Vorstoß waren die deutschen Verteidiger nicht eingestellt. Nur so ist zu erklären, dass die Panzersperren im Ort nicht geschlossen und keine Postenkette eingerichtet worden war. Gegen 22.40 Uhr drangen die Amerikaner in Anrath ein. Die Besetzung des Ortes verlief durch den Überraschungseffekt ohne größere Kämpfe, trotzdem fanden fünf Zivilisten und sieben deutsche Soldaten den Tod.
Am nächsten Morgen wurde Dechant Harff auf dem Weg zur Frühmesse von einem Panzer beschossen und dabei schwer verletzt. Weitere Opfer verhinderte die Landwirtin Regina Brunner vom Darderhof, der es gelang, die Soldaten einer dort in Stellung gegangenen deutschen Batterie von der Beschießung Anraths abzuhalten.
Die 16jährigen Anrather Jungen wurden im Oktober 1944 zur Musterung berufen. Ein großer Teil von ihnen befand sich allerdings zu dieser Zeit bei Schanzarbeiten am Westwall oder einer anderen vormilitärischen Ausbildung. Die Jungen wurden noch im Winter eingezogen und kamen entweder zum Reichsarbeitsdienst oder aber direkt in die Wehrmacht. Einige von Ihnen sind nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.
Tafel 29
(Bilder folgen)