Teil 2

5. Anrath unter dem Preußenadler
6. Die große Krise
7. Kirchenneubau
8. Phoenix aus der Asche


5. Anrath unter dem Preußenadler

Tafel 12

Das Rheinland und Preußen – eine schwierige Beziehung

Die Rheinprovinz war ein Kind des Wiener Kongresses. Denn am Ende der Napoleonischen Kriege wurden die Gebiete entlang des Rheins grundlegend neu geordnet.

1815 wurde der Staat Preußen in 10 Provinzen eingeteilt. Aus den zunächst gebildeten beiden Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Niederrhein ging 1822 die Rheinprovinz mit Sitz in Koblenz hervor.

Die politische und kulturelle Eingliederung der Rheinprovinz in den Staat Preußen war eine große Herausforderung. Schließlich war das Rheinland damals bereits sehr modern, was Industrie und Handel betraf, und das dortige Bürgertum war entsprechend selbstbewusst, während das übrige Preußen noch weitgehend agrarisch geprägt und der Vorrang des Adels noch unumstritten war. Außerdem war die Rheinprovinz mehrheitlich katholisch, was ebenfalls zu Vorbehalten gegenüber der neuen Obrigkeit führte.

Das neue Steuersystem, das Verhalten der altpreußischen Beamtenschaft und der Zwang zum Waffendienst, insbesondere aber das geringe Verständnis gegenüber den Belangen des katholischen Bevölkerungsteils führten zu jahrzehntelangen Ressentiments gegenüber den neuen Landesherrn, die sich erst Ende des 19.Jahrhunderts legten.

1848 – Revolution nach Anrather Art

Die Revolution von 1848 hatte im Rheinland zwei sehr unterschiedliche Facetten: Während es in den Städten, zum Beispiel in Düsseldorf, Köln oder Neuss, hoch herging, nahmen die Menschen im ländlichen Raum die Revolte nur aus der Ferne wahr.

Doch die Anrather waren durchaus an den Ereignissen der damaligen Zeit interessiert: wurden bis zu dato nur zwei oder drei Zeitungen gelesen, so schnellte die Zahl der Bezieher nun auf 20 hoch. Schließlich entschlossen sich die Freiheitskämpfer von der Flöth, sich dem Sturm auf das Neusser Zeughaus anzuschließen

Am 10. Mai zog eine buntgemischte Menschenmenge mit Flinten, Pistolen, Spaten und Spitzhacke von Gladbach über Korschenbroich gegen Neuss. Von Viersen setzte sich ein Zug in gleicher Richtung in Bewegung. In Anrath trafen sich abends die Demokraten auf dem Markt, machten bekannt, dass überall die Sturmglocken läuteten und eine Reihe von Gemeinden auf dem Marsch sei, um den Freiheitskämpfern in Düsseldorf und Elberfeld zu Hilfe zu kommen. Kein Waffenfähiger dürfe sich zurückhalten.

Aber es kam niemand. Die wenigen, die aus Neugier erschienen, waren nicht willens, sich auf den Weg zu machen, zumal bekannt wurde, dass die bei Neuss lagernde Menge sich vor dem anrückenden Militär zurückzog und heimkehrte. So beschlossen die Anrather, die Revolte in die Gaststätten zu verlagern. Es wurde gesungen, getrunken und getanzt, Bürgermeister Gierlichs schloss sich der Spontan-Party an.

Am Tage darauf wollte niemand dabei gewesen sein, als die preußische Polizei auf der Suche nach Revoluzzern die Dörfer durchkämmte. Auf jeden Fall kam es zu keinen Verhaftungen.

König Friedrich Wilhelm III. von Preußen
Durch den Wiener Kongress wurde er neuer Herrscher der Rheinlande – gegen seinen Willen. Seine Ambitionen galten vielmehr einer Annexion Sachsens, die jedoch am Widerstand Russlands scheiterte.
1815 wandte er sich mit nachstehendem Aufruf an seine neuen Untertanen:
„An die Einwohner der mit der preußischen Monarchie vereinigten Rheinländer.
Als Ich dem einmüthigen Beschluß der zum Kongreß vesammelten Mächte, durch welchen ein großer Theil der deutschen Provinzen des linken Rhein=Ufers Meinen Staaten einverleibt wird, Meine Zustimmung gab, ließ ich die gefahrvolle Lage dieser Grenz=Lande des deutschen Reichs, und die schwere Pflicht ihrer Vertheidigung, nicht unerwogen.Aber die höhere Rücksicht auf das gesammte deutsche Vaterland entschied Meinen Entschluß. Diese deutschen Urländer müssen mit Deutschland vereinigt bleiben; sie können nicht einem anderen Reich angehören, dem sie durch Sprache, durch Sitten, durch Gewohnheiten, durch Gesetze fremd sind.Sie sind die Vormauer der Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands, und Preussen, essen Selbstständigkeit seit ihrem Verluste hart bedroht war, hat eben so sehr die Pflicht, als den ehrenvollen Anspruch erworben, sie zu beschützen und für sie zu wachen. Dieses erwog Ich, und auch, daß Ich Meinen Völkern ein treues, männliches, deutsches Volk verbrüdere, welches alle Gefahren freudig mit ihnen theilen wird, um seine Freiheit, so wie sie und mit ihnen, in entscheidenden Tagen zu behaupten.So habe ich denn, im Vertrauen auf Gott und auf die Treue und den Muth Meines Volkes, diese Rheinländer in Besitz genommen, und mit der preußischen Krone vereiniget.“
Karte des Reichsgebietes von 1871. Hellblau markiert ist die preußische Rheinprovinz, die bis 1945 existierte und durch die Briten aufgeteilt wurde: Der nördliche Teil ging in Nordrhein-Westfalen auf, der südliche in Rheinland-Pfalz. Auch das heutige Saarland gehörte zur Rheinprovinz.
Karl Gierlichs war von 1844 bis 1887 Bürgermeister von Anrath. Seit 1868 übte er dieses Amt auch in Willich aus. Gierlichs bewies in seiner Amtsführung Weitblick und diplomatisches Geschick, auch in den Krisenzeiten der 48er Revolution und des Kulturkampfes.
Es dauerte viele Jahrzehnte lang, bis sich im Rheinland ein Patriotismus entwickelte. Nach der Reichsgründung von 1871 war es dann auch mehr ein deutscher als ein preußischer Patriotismus. 1927 stellten sich die letzten noch lebenden Veteranen der Einigungskriege 1864-1871 zum Gruppenfoto auf.
Anrath war die einzige Gemeinde unseres Stadtgebietes, die ein Ehrenmal für die Gefallenen der Einigungskriege errichten ließ. Die Idee wurde von den Krieger- und Schützenvereinen an die Gemeinde herangetragen, doch die große Weberkrise machte eine Umsetzung des Projekts unmöglich.
Erst 1910 startete Bürgermeister Neusen einen Spendenaufruf an die Bevölkerung, durch den die nötigen Mittel zusammenflossen. Noch im selben Jahr wurde das Ehrenmal an der Gietherstraße Ecke Jakob-Kres-Straße feierlich enthüllt. Das Denkmal wurde zum 2. Juli 1936 an den heutigen Platz versetzt.

Tafel 13

Kulturkampf

Die beiden ersten Jahrzehnte der Kaiserzeit waren gekennzeichnet durch eine erhebliche Belastung der Beziehungen zwischen Preußischem Staat und Katholischer Kirche, dem sogenannten Kulturkampf zwischen 1873 und 1886/7, einer Konfrontation, die gerade auch im Katholischen Rheinland und im Erzbistum Köln zu erheblichen Konflikten führte: neben vielen Pfarrerstellen blieb auch der Kölner Bischofssitz infolge des Konfliktes über zehn Jahre verwaist.

In Anrath waren Bürgermeister Gierlichs und Pfarrer Velten bemüht, den Konflikt auf das unabwendbar Streitige zu reduzieren. Wenn jedoch die Anordnungen unmittelbar von der Regierung kamen, waren auch die beiden machtlos. So mussten sich die seit 1857 in Anrath tätigen Schwestern vom Orden der christlichen Liebe 1876 aus der Kindergartenarbeit und dem Religionsunterricht zurückziehen.

Dass Gierlichs die Zusammenarbeit mit der Kirche näher lag als die Loyalität zur Regierung zeigte sich im Jahr darauf: Als er vom Regierungspräsidenten aufgefordert wurde, all jene Einwohner namentlich zu nennen, „die für die katholische Sache tätig waren&&;, gab er einfach keine Meldung weiter.

Nach dem Weggang von Pfarrer Velten im Jahre 1882 war die Pfarrstelle vier Jahre lang vakant. In dieser Zeit übernahm Kaplan Zentis die seelsorgerische Betreuung der Gemeinde. Mit dem Ende des Kulturkampfes erhielt Anrath 1886 auch wieder einen Pfarrer.

Anfänge der Sozialdemokratie

Dass Anrath die Wiege der Sozialdemokratie in unserer Stadt ist, kann kaum verwundern, da es neben drei sehr landwirtschaftlich geprägten Gemeinden der einzige von Handwerkern, sprich Webern dominierte Ort war.

Am 24.November 1872 fand in Anrath eine Versammlung statt, die hauptsächlich von Webern aus Viersen und Krefeld besucht wurde. Die Initiative war jedoch von Anrather Webermeistern ausgegangen. Ihr Ziel war es, wie die Niederrheinische Volkszeitung schreibt, „die Löhne bei dem drohenden Eintritt einer flauen Beschäftigung möglichst auf der jetzigen Höhe zu halten“.

Knapp drei Jahre später, im Oktober 1877, berichtet die lokale Presse über eine erste, 25 Mann starke Gruppe von Anrather Sozialdemokraten.

Und noch einmal ein Jahr später, am 27.Juni 1878, schreibt der Landrat an die preußische Regierung, dass „in der Gemeinde Anrath ein socialdemokratischer Verein bestehe, nämlich der Ortsgewerbe-Verein des Niederrheinischen Weberbundes.“ Er zählte zu diesem Zeitpunkt 28 Mitglieder und stand unter der Führung des Krefelders Wilhelm Röpske sowie der Anrather Stoffweber Stocks, Adophs und Grüter.

Nur vier Monate später verabschiedete der Reichstag das sogenannte Sozialistengesetz. Dieses verbot sämtliche sozialdemokratische Organisationen, Publikationen und Versammlungen wurden verboten. Das Gesetz verfehlte aber weitgehend seine Wirkung, da sich die Sozialdemokraten in Sport- und Gesangsvereinen organisierten und sich so weiter treffen konnten.

Eine kuriose Geschichte ist aus dem Jahr 1887 überliefert: Der Polizeigendarm Borg wollte abends beim „Malbauern“ noch ein Bier trinken und platzte dabei in eine als „geselliges Treffen“ getarnte Versammlung von 200 Sozialdemokraten. Der Polizist machte den Wirt umgehend darauf aufmerksam, dass diese Veranstaltung verboten sei. Doch dieser fragte Borg nur, „ob er ihm die Wirtschaft verderben wolle. Er bräuchte ja nichts davon zu sehen oder zu hören. Er sehe auch nichts.“ Währenddessen löste sich die Versammlung auf.

Das am 19.Oktober 1878 verabschiedete „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich außerhalb des Reichstags und der Landtage und kam damit einem Parteiverbot gleich.
Das Gesetz wurde mehrmals verlängert und galt bis zum 30. September 1890.

Der Anrather Lorenz Schmitz (1792-1871) widmete sich intensiv dem Gemeinwohl, sei es als Abgeordneter beim Kreis Krefeld, als Mitglied des Gemeinderates oder als Mitglied des Kirchenvorstandes. In seinem Testament vermachte er den größten Teil seines Vermögens und sämtlichen Grundbesitz der Gemeinde Anrath.
Diese wurde im Testament beauftragt, ein Heim für alte, arme und kranke Menschen einzurichten und dieses aus den Stiftungsgeldern zu unterhalten. So wurde dann auch im Wohn- und Elternhaus von Lorenz Schmitz an der Viersener Straße, ein Krankenhaus und Pflegeheim eingerichtet, das am 16.11.1873 eingeweiht wurde.
Lorenzhospital 1905
Die von der Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft gebaute Bahnstrecke Krefeld – Anrath – Viersen – Mönchengladbach wurde am 15.10.1849 freigegeben.
Die Bahnstrecke sollte eine Verbindung vom Ruhrgebiet zu den Industriestädten Krefeld, Viersen und Mönchengladbach schaffen. 1917 wurde die Strecke um ein zweites Gleis erweitert, 1964 elektrifiziert.
Das Anrather Bahnhofsgebäude wurde 1850 erbaut. Im Gebäude richtete die Familie Melchers einen Restaurationsbetrieb ein.
Der Anrather Bahnhof im Jahr 1914
Karikatur der Zeitschrift Kladderadatsch von 1875.
Die großen Kontrahenten des Kulturkampfes, Reichskanzler Bismarck und Papst Pius IX. spielen Schach mit Figuren, die die jeweiligen Waffen im Konflikt darstellen: Die Internierung von Geistlichen und Gesetze auf der einen, Syllabus errorum, Enzykliken und Interdikt auf der anderen Seite.

6. Die große Krise

Tafel 14

Webstube in Anrath

Tafel 15

Der Niedergang der Hausweberei

In den 1880er Jahren brach der jahrhundertealte Wirtschaftszweig der Hausweberei zusammen wie ein Kartenhaus. Dies stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Inbetriebnahme von mechanischen Webstühlen in der Umgebung. Anrath hatte diese Entwicklung komplett verschlafen, da man sich zu lange auf das altbewährte Verlagssystem verließ.

Im Wortlaut:

Durch die Einführung der mechanischen Weberei und die Ungunst der Mode lag die Handweberei von Sommer 1887 ab fast total darnieder und blieben in den Wintern 1887/88 und 1888/89 nur zwei- bis dreihundert Stühle in Beschäftigung. Durch ausbleibende Steuereinnahmen und die Belastung der Armenkasse ist die Existenz der Gemeinde sehr gefährdet und der Ruin unausbleiblich.

Sollte der früher der Gemeinde Anrath zugefügte Nachtheil … nicht noch nachträglich beseitigt werden können, so erübrigt nur, die leistungsunfähige Gemeinde mit einer besser gestellten zu vereinigen.Bürgermeister Leonard Axler, 1894

Angesichts der aufkommenden Großwebereien mit mechanischen Webstühlen wurde das Verlagssystem unrentabel – die Hausweber im Krefelder Umland wurden nicht mehr benötigt. Folglich ging die Zahl der in den Gemeinden betriebenen Hauswebstühle innerhalb kurzer Zeit stark zurück. So waren in Anrath 1880 noch 1.226 Stühle in Betrieb, zwölf Jahre später waren es gerade noch 492.

Während in Neersen, Schiefbahn oder Willich die nach wie vor finanz- und steuerkräftige Landwirtschaft die Gemeinden durch die Krisenjahre brachte, stellte die Entwicklung für Anrath, das „Dorf ohne Land“, eine Katastrophe dar. Die Gemeinde hatte sich voll und ganz in die Abhängigkeit der Krefelder Samt- und Seidenweberei begeben und musste nun für diese wirtschaftliche „Monokultur“ büßen. Viele Bewohnern fielen der Armut anheim und verließen den Ort.

Dazu kam noch, dass ausgerechnet Anrath 1891 von einem – in der hiesigen Region eher seltenen – Wirbelsturm heimgesucht wurde, der zahlreiche Häuser und Höfe verwüstete. Die Not wurde so groß, dass Bürgermeister Axler 1894 bei der Regierung die Auflösung der Gemeinde forderte.

Das Gesuch wurde von den preußischen Regierung abgelehnt. Diese versuchte mit verschiedenen Maßnahmen dem gebeutelten Ort eine wirtschaftliche Grundlage zu geben – die wohl außergewöhnlichste war der Bau eines Gefängnisses im Jahre 1904. Die Wende zum Guten brachte aber erst die Ansiedlung von Großwebereien in den folgenden Jahren.

Mitte des 19.Jahrhunderts schossen im Rheinland mechanische Großwebereien aus dem Boden, so die 1865 gegründete Baumwollspinnerei May in Mönchengladbach. In Anrath wurde diese Entwicklung verschlafen, man hielt zu lange am Verlagssystem fest.

Anrath im Wirbelsturm

Am 1. Juli 1891 wurde das ohnehin schwer gebeutelte Anrath von einem Naturereignis überrascht, welchem man in den hiesigen Breiten eher selten begegnet – einem Wirbelsturm. Gegen 17 Uhr trafen Nachrichten aus Dülken und Süchteln ein, die von einem furchtbaren Wirbelsturm berichteten. Eine Stunde später brach dann die Windhose unvermittelt über Anrath herein. Das Desaster dauerte nur zwei Minuten, hinterließ jedoch ein Bild der Verwüstung: In Clörath wurde der Haxhof zerstört, ebenso der benachbarte Hüpenhof. Der Kappertzhof war so zerstört, daß er nicht mehr aufgebaut wurde.

Im Wortlaut:

Ein furchtbarer Wirbelsturm hat gestern Nachmittag unsere Gemeinde in wenigen Augenblicken in ein Bild der Zerstörung verwandelt. Zahlreiche Häuser sind eingestürzt, viele andere ihrer Dächer und Fensterscheiben beraubt.

Der nachfolgende wolkenbruchartige Regen hat den Schaden noch verdoppelt. Unsere Kirche hat schwer gelitten. Der Helm des Thurmes hat sich stark zur Seite geneigt, sämtliche Fenster sind zerstört. Das Getreide ist ganz vernichtet.Augenzeugenbericht zum Wirbelsturm 1891

In Anrath litten vor allem die Anwohner der Süchtelner Straße unter dem Unwetter. Außerdem gingen sämtliche Kirchenfenster der Pfarrkirche zu Bruch, fast alle Gaststätten wurden zerstört, kein einziges Dach blieb unbeschädigt.

Die Schadensbilanz war erschütternd:

  • 23 eingestürzte Häuser
  • 8 Häuser, die wegen Einsturzgefahr abgerissen werden mussten
  • 52 schwer beschädigte Wohnungen
  • 120 zerstörte Nebenhäuser
  • ca. 500 abgedeckte Dächer

Durch die am Tag nach der Katastrophe einsetzenden Presseberichte setzte eine regelrechte Völkerwanderung von Schaulustigen nach Anrath ein: am Sonntag, den 4. Juli, war der Andrang von Krefeld aus so groß, dass Sonderzüge der Reichsbahn mit Überlängen eingesetzt werden mussten, die je Zug 1.000 Personen beförderten. Erhebliche Verkehrsstockungen durch eine große Zahl von Fußgängern und Fahrzeugen auf der Landstraße von Krefeld nach Anrath wurden verzeichnet.

Diverse Spendenaufrufe blieben nicht unerhört: mehr als 22.000 Mark kamen zusammen, womit allerdings nur die größte Not gelindert werden konnte. Letztlich war die Gemeinde nicht in der Lage, die nach dem Wirbelsturm nochmals gestiegene Armenfürsorge zu tragen. Drei Jahre später stellte die Gemeinde den Antrag auf Selbstauflösung.

Mit einem Spendenaufruf wandte sich der Anrather Pfarrer Krichel sechs Tage nach dem verheerenden Wirbelsturm an die Öffentlichkeit. Er bezifferte die entstandenen Schäden auf rund 400.000 Mark. Immerhin kamen 22.000 Mark an Spenden zusammen.
Sturmschäden am Anrather Dohrhof. Nahezu kein Dach überstand den Wirbelsturm vom 1. Juli 1891 unbeschadet.
Als weiteres Problem erwiesen sich die Schaulustigen, die scharenweise aus Krefeld nach Anrath kamen.

Tafel 16

Der Haxhof in Cloerath nach dem Wirbelsturm vom 1. Juli 1891

7. Kirchenneubau

Tafel 17

Der lange Weg zur neuen Kirche

Bereits nach dem Brand des Kirchturmes im Jahre 1840 wurden Stimmen laut, die einen Neubau forderten. Dies hing zum einen damit zusammen, dass viele Anrather der „Patchwork-Kirche“ nicht mehr viel abgewinnen konnten, vor allem aber ein enormer Platzmangel herrschte.

So mussten nach Kricker 1856 sogar die Bänke aus dem Mittelschiff entfernt werden, um mehr Besuchern Platz zu bieten. 1880 bot die Kirche nur etwa 400 Gläubigen Platz – bei über 5.000 Gemeindemitgliedern! Eine Erweiterung der vorhanden Kirche wurde aufgrund der wenig tragfähigen Mauern und der gefährlichen Gewölbekonstruktion als undurchführbar erachtet. Somit stand fest, dass die Gemeinde Anrath einen Kirchenneubau benötigte.

Bereits im Jahre 1867 regte Pfarrer Velten erstmals konkret den Bau einer neuen Kirche an, dem der Kirchenvorstand am 6. Januar 1869 zustimmte. Doch der Kulturkampf und der wirtschaftliche Niedergang Anraths unterbrachen das Vorhaben.

Erst im Jahre 1892 wurden die Planungen durch Pfarrer Schoenenberg wieder aufgenommen, zwei Jahre später beschloss der Kirchenvorstand, als Kirchenbauterrain (…) einstimmig (den …) Platz der alten Kirche.

Pläne, den Neubau an anderer Stelle zu errichten, wurden verworfen, da alle Straßenzüge auf den Kirchplatz ausgerichtet waren und die Kirche weiter Zentrum des Dorfs bleiben sollte. Damit war das Schicksal der alten Kirche besiegelt. Viele Anrather hatten den Wunsch geäußert, diese zu erhalten und den Neubau an anderer Stelle zu errichten. Doch auch sie mussten einsehen, dass die Errichtung einer neuen Kirche und die Instandsetzung des Altbaus nicht zu schultern gewesen wäre.

Mit der Errichtung der neuen Kirche wurde der Architekt Josef Kleesattel beauftragt. Am 22. November 1896 wurde der Abriss der alten und die Ausschreibung der neuen Kirche in Auftrag gegeben, die Errichtung einer Notkirche beschlossen. Vor dem Abbruch der alten Kirche fand am 28.1.1897 zum letzten Mal ein Gottesdienst statt. Der Abbruch erfolgte im Zeitraum von Februar bis März 1897. Große Teile der Inneneinrichtung erwarb der „Malbauer“ Peter Grefertz.

Bereits im April 1897 wurden die Fundamente der neuen Kirche ausgehoben, am 6.Juni 1897 der Grundstein gelegt, am 30. Oktober 1898 schließlich die feierliche Kirchweihe vollzogen.

Warum sehen sich die Kirchen im ländlichen Bereich so ähnlich?

Gegen Ende des 19.Jahrhunderts stieg der Bedarf an Kirchenneubauten in den Landgemeinden des Niederrheins. Grund dafür war vor allem die enorm wachsende Bevölkerung. So reichten die bescheidenen Dorfkirchen, welche Jahrhunderte lang genügt hatten, nicht mehr aus, um allen Pfarrangehörigen die Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen. In der Folgezeit verschwanden im Rheinland bis zu vier Fünftel der meist aus dem Mittelalter stammenden Landkirchen und wurden durch größere Neubauten ersetzt.

Bestimmt ist Ihnen schon aufgefallen, dass sich die in dieser Zeit neu errichteten Kirchen sehr ähneln. Dies liegt daran, dass sie nahezu alle im neugotischen Stil errichtet wurden.

Dafür gibt es zwei probate Erklärungen:

So galt der neugotische Stil im späten 19.Jahrhundert als „nationaler“ Baustil. Alle Architekten orientierten sich dabei am Kölner Dom, der als Zentrum der neugotischen Bewegung galt. Franz Bock schreibt dazu im Jahre 1899: „Es gibt wohl kein Bistum, auf dessen Gebiet im 19.Jahrhundert so viele Kirchenbauten errichtet wurden. Einer Handvoll Baumeister, mit dem Kölner Dombaumeister Zwirner an der Spitze, gelang es, Klassizismus und Neoromanik soweit zurückzudrängen, dass zwischen Duisburg und Donsbrüggen fast nur noch Neugotiker zum Zug kamen“.

Der zweite Grund war wesentlich profaner: Nur bei der neugotischen Bauweise war es möglich, ein hohes Niveau der Baukunst mit relativ geringen finanziellen Mitteln zu erreichen.

Die neue Pfarrkirche auf einem Bild aus dem Jahre 1903. Im zwei Jahre später erschienenen „Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler“ beschreibt Georg Dehio sie folgendermaßen:
Bei der Anrather Pfarrkirche handelt sich um eine dreischiffige neugotische Backsteinhalle mit Staffelchor und Westturm, der von acht achtseitigem Aufsatz mit Spitzhelm bekrönt ist.
Josef Kleesattel, hier inmitten seiner Arbeiter beim Bau der neuen Pfarrkirche von Willich, war im Rheinland ein gefragter Architekt. Im Zeitraum von 1883 bis 1910 entstanden sage und schreibe 40 (!) Kirchen nach seinen Entwürfen.
Die Fotografie aus dem Jahre 1910 zeigt den Altarraum der neuen Anrather Pfarrkirche. Dessen Gestaltung hat sich in den letzten hundert Jahren völlig verändert.
Im Jahre 1956 gestaltete der Anrather Wilhelm Teuwen vier Fensterabschnitte. Eines der Kunstwerke zeigt die Heilige Brigida, die als Schutzpatronin der Bauern im Volk große Verehrung fand. Sie trägt in der linken Hand einen Melkeimer, in der rechten einen Stab.

Mehr zum Neubau der katholischen Kirche unter diesem Link: St. Johannes Baptist
Weitere Informationen auch über die Webseite des Kirchbauvereins: www.kirchbauverein-anrath.de

8. Phoenix aus der Asche

Tafel 18

Die Industrie kommt nach Anrath

1894 lag die Gemeinde Anrath am Boden. Zermürbt durch den Wegfall der traditionellen Hausweberei und den Wirbelsturm von 1891 beantragte der frustrierte Bürgermeister Axler bei der preußischen Regierung die Auflösung der Gemeinde.

Im Wortlaut:

In den Jahren 1898 bis 1902 setzte alsdann als Erfolg vielseitiger, auch von der Staatsregierung sehr unterstützter Bemühungen, die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwunges für Anrath ein.

Das bisherige arme Weberdorf entwickelte sich zu einem blühenden Gemeinwesen und hat diese Entwicklung bis zur Gegenwart, trotz der Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse der letzten Zeit, erfreulicherweise angehaltenBürgermeister Heinrich Neusen, 1928

Es dauerte aber nur vier Jahre, bis am Ende des Tunnels ein Licht erschien – und zwar ein sehr helles und sehr großes: Es gelang dem Nachfolger Axlers als Bürgermeister, Jakob Horster, den Seidenfabrikanten Carl Lange für die Ansiedlung eines Betriebes zu gewinnen. Am 11.1.1898 stellte die Gemeinde ihm ein sieben Morgen großes Grundstück an der Bahnstraße zur Verfügung, dort errichtete Lange im folgenden Jahr eine Seidenweberei. Hier fanden viele arbeitslose Heimweber wieder eine Arbeit, und der wirtschaftliche Aufschwung Anraths begann.

Der Schwerpunkt der Produktion lag anfangs auf der Herstellung von seidenen Krawattenstoffen, während des Ersten Weltkrieges wurden Ballonseide und Papiergewebe hergestellt. In dieser Zeit wuchs die Fabrik von einem Saal auf fünf, 1918 beschäftigte die Weberei 250 Arbeiter. Der Erfolg der Firma beruhte auch darauf, dass Lange ein völlig neues Vertriebssystem entwickelte, indem er die gewebten Stoffe nicht an den Großhandel, sondern sofort an die Detaillisten verkaufte.

Die zweite große Ansiedlung in Anrath ging zurück auf den Gladbacher Fabrikanten Jakob Krebs, der im Jahre 1907 die 1890 von Albert Dederichs gegründete Tuchfabrik übernahm. Infolge seiner Spezialfabrikate – Kammgarnimitationen und Nouveautés – gelang es dem Unternehmen, sich in verhältnismäßig kurzer Zeit auf dem nationalen und internationalen Markt einen guten Ruf zu verschaffen.

Nicht vergessen darf man bei der Aufzählung der Anrather Textilbetriebe die 1866 von den Kaufleuten Jacob Jammers und Eduard Leufgen gegründete „Samt- und Seidengroßhandlung Jammers&Leufgen Anrath bei Krefeld“. Das Unternehmen beschränkte sich anfangs auf die Herstellung von Seidenstoffen auf Handwebstühlen und den Handel mit Samten. Mit der zunehmenden Mechanisierung wurden nun auch Seidenstoffe gehandelt. Die Kaufleute konnten so in der Folgezeit sowohl ihr Angebot als auch den Kundenbezirk wesentlich erweitern.

1907 übernahm der ehemalige Gladbacher Betriebsleiter Jakob Krebs die 1890 gebaute Tuchfabrik Albert Dederich und baute sie zu einem der führenden Unternehmen dieser Branche aus. Die Verdienste des 1927 verstorbenen Firmengründers würdigte der Gemeinderat 1934 mit der Umbenennung der Bahnstraße in Jakob-Krebs-Straße.
Der klassische Unternehmer des ausgehenden 19.Jahrhunderts war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch „Patron“ für seine Arbeiter. So unterstützte Jakob Krebs auch die Bildung eines Werkschores, dessen Mitglieder die Aufnahme aus dem Jahre 1914 zeigt.
Der Fabrikant Carl Lange besaß bereits einen Handbetrieb in Odenkirchen und eine mechanische Weberei in Krefeld, als er 1898 in Anrath ein Werk errichtete. Rund 250 Weber, die durch den Übergang zur mechanischen Weberei arbeitslos geworden waren, fanden in Langes Seidenweberei endlich Arbeit.
Dicht an dicht stehen die Webstühle in der Tuchfabrik Jakob Krebs auf diesem Bild aus dem Jahre 1930. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte das Anrather Werk bereits über 500 Mitarbeiter.
Verkaufsraum der Tuchfabrik Jakob Krebs im Jahre 1930

(Bild folgt)
Neben den Großwebereien Lange und Krebs etablierten sich in Anrath auch kleinere Betriebe, so zum Beispiel die Weberei Leven an der Fadheider Straße. Das Shed verfügte über sechs Webstühle, zwei Spulmaschinen und eine Windemaschine.

Tafel 19

Das neue Anrath

Der beschriebene wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte es der Gemeinde, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ihre Infrastruktur massiv auszubauen.

Nach Jahren der Stagnation waren nun endlich die finanziellen Mittel vorhanden, um lange aufgeschobene Projekte voranzutreiben. 1901: Elektrizitätswerk an der Schottelstraße
1906: Neues Krankenhaus an der Neersener Straße
1906: Neues Rathaus am Kirchplatz
1913: Neue Knabenschule an der Allee
1914: Sportplatz in der Donk

1901 ließ die Gemeinde Anrath an der heutigen Schottelstraße ein Elektrizitätswerk errichten. Sie wollte mit diesem Schritt die örtlichen Bandwebereien mit preiswerter Betriebskraft versorgen. Am Heiligabend wurde das Elektrizitätswerk in Betrieb genommen, am Abend des Ersten Weihnachtstages Anrath erstmals elektrisch beleuchtet.
Elektrifizierungstrupp an der Kirche
Da die Kapazität des alten Krankenhauses an der Viersener Straße Anfang des 20.Jahrhunderts erschöpft war, entschloss sich der Gemeinderat zum Neubau an der Neersener Straße. 1906 nahm das Lorenz-Hospital den Betrieb auf. Das neue Krankenhaus umfasste 100 Betten und verfügte über eine moderne Ausstattung.
Beschäftigte des Lorenzhospitals 1916
Am 17.Dezember 1904 fasste der Gemeinderat den Beschluss, an der Viersener Straße ein Rathaus zu errichten und damit der jahrzehntelangen provisorischen Unterbringung der Verwaltung ein Ende zu bereiten.
Am 14.Oktober 1906 wurde das Rathaus eingeweiht. Der Neubau wurde mit dem benachbarten alten Krankenhaus verbunden, in den ehemaligen Krankenzimmern Dienstzimmer eingerichtet.

Mehr zum Neubau des Rathauses unter diesem Link: Peäperdues

Ein weiteres Großprojekt war der Bau einer neuen Knabenschule hinter dem Rathaus. Diese wurde in den Jahren 1912/1913 anstelle einer älteren Schule aus dem Jahr 1878 errichtet.
Wie auf dem untenstehenden Bild zu erkennen ist, war die Einweihung am 17.November 1913 ein großes gesellschaftliches Ereignis für die Bürger Anraths.
1896 gründete sich die Freiwillige Feuerwehr. Die Gerätschaften der aus 47 Personen bestehenden Wehr bestanden anfangs neben einer Saugspritze mit Wasserwagen aus zwei alten Druckspritzen, 60 Brandeimern und einigen Leitern. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage des Ortes gebessert hatte, konnte 1905 auch endlich ein moderner Mannschafts- und Gerätewagen angeschafft werden.

Das letzte Großprojekt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der Bau eines Sportplatzes in der Donk. Mit dem Bau der Anlage wurde 1912 begonnen, offizieller Anlass war das Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms. Die Anlage mit Sportplatz, Sporthaus und Schießstand wurde im Sommer 1914 fertig gestellt.

Tafel 20

Straßenansichten vor 1914

Tafel 21

Luftbild Verseidag und Tuchfabrik Jakob Krebs mit der Justizvollzugsanstalt 1957

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