Das Kriegsende in der Anrather Strafanstalt im Jahre 1945

von Gottfried Daum – aus dem Anrather Heimatbuch 1984

Vor dem Einmarsch der Amerikaner am 1. März 1945 saßen in der Anrather Strafanstalt 481 männliche Gefangene ein; davon 54 Wehrmachtshäftlinge, 129 Schutzhäftlinge und 298 Strafgefangene, wovon sich 168 auf Außenarbeitsstellen befanden. Das Frauenhaus war mit 729 Zuchthausgefangenen belegt, wovon 462 Frauen auf 40 Außenarbeitsstellen verteilt waren (1). Als ab dem 20.2.1945 der Tieffliegerbeschuß und die Bombardierung im Anrather Raum einsetzte, verbreitete sich unter den Gefangenen und auch unter den Bediensteten der Anrather Strafanstalt allgemeine Unruhe, die sich steigerte, als ab dem 25.2.1945 Artilleriebeschuß einsetzte und u.a. eine Granate auch im B-Flügel der Männerstrafanstalt einschlug (2). Bereits seit Wochen stand der Leiter der Anrather Strafanstalt (Regierungsrat Dr. Combrinck) mit dem Standortältesten von Krefeld (Hauptmann Heitfeld) und dem Kampfkommandanten (Oberstleutnant Weiß) in Verbindung, um bei akuter Feindbedrohung rechtzeitig die beiden Anrather Anstalten räumen zu können. Der Krefelder Kampfkommandant hatte sich verpflichtet, dem Anrather Strafanstaltsdirektor rechtzeitig den Räumungszeitpunkt bekannt zu geben und für die Räumung Militärfahrzeuge zur Verfügung zu stellen (3).

Bereits am 7. Februar hatte der Strafanstaltdirektor Richtlinien entworfen, die er dem Generalstaatsanwalt in Düsseldorf wie folgt mitteilte:

“Für den Fall der Räumung der Gemeinde habe ich für die Räumung der Anstalt folgende Maßnahmen vorgesehen:

1) die in der Anstalt befindlichen Gefangenen werden, soweit es sich um Gefangene handelt, welche nicht wegen kurzen Strafresten zur Entlassung gelangen können, soweit wie möglich, per Achse, sonst zu Fuß unter entsprechender Bedeckung durch das Anstaltspersonal. auf dem kürzesten Weg der Anstalt Düsseldorf-Gerresheim bzw. Düsseldorf-Derendorf zugeführt. Sollte die Rheinbrücke bei Düsseldorf nicht passierbar sein, so würde ich die Überführung über die Krefelder Rheinbrücke nach Duisburg-Hamborn vornehmen.

2) Die Außenarbeitsstellen haben Weisung, sich in dieselbe Richtung in Marsch zu setzen. Mit den Unternehmen sind Abreden dahingehend getroffen, daß die Gefangenen, soweit eben möglich, per Achse dorthin überstellt werden. Es handelt sich um die Außenarbeitsstellen der oFirmen Rheinische Kunstseide AG. Krefeld-Linn, der Firma Kaisers-Kaffee-Geschäft in Viersen, Pfeifer & Langen in Uerdingen, Vonken in St. Hubert, Schäfer in Viersen, Schages in Kaarst, Böhlerwerke in Heerdt, Plücken & Sturm in Neuss, Gebr. Wahlefeld in Krefeld-Linn, Stadt Kempen, Firma Krücken in Krefeld, Schmitz & Co. in Lank.

3) Den in der Anstalt befindlichen Gefangenen werden ihre eigenen Sachen und weiterhin eine Garnitur Anstaltskleidung auf dem Marsch gegeben.

4) Die Lebensmittelbestände und Lagerungs-Bekleidungsbestände, sowie Rohstoffe werde ich trachten, noch in Sicherheit bringen.

5) Jede Außenarbeitsstelle verfügt über ein namentliches Verzeichnis der beschäftigten Gefangenen, welches der Leiter, bzw. die Leiterin der Außenarbeitsstellen mitführen wird. In der Anstalt werden die Gefangenenbücher sichergestellt und mitgeführt werden, sodaß stets über jeden Gefangenen genaue Unterlagen vorhanden sind. Mit der Sicherstellung dieser Bücher sind bestimmte Beamte bzw. Beamtinnen betraut.

6) Sämtliche Fuhrwerke und Fahrzeuge werden zunächst rechtsrheinisch geleitet. Ich beabsichtige dieselben dem Zuchthaus Lüttringhausen zuzuführen. Auch die Viehbestände werde ich forttreiben.

7) Die Personalakten werden ebenfalls mitgeführt.

8) Gegenstände, insbesondere Lebensmittel, die dem Feind wertvoll sein könnten, und welche nicht sichergestellt werden können, werde ich vernichten (4).”

An dem letzten Februartag 1945 überschlugen sich dann die Ereignisse. Am 28.2. teilte der Krefelder Kampfkommandant dem Anrather Strafanstaltsdirektor fernmündlich mit, daß es ratsam sei, die Anstalt zu räumen, da die Lage sehr ernst sei. Er wollte jedoch noch anderntags bei einer Geländesondierung gegen 12.00 Uhr die Anstalt aufsuchen, um weitere Einzelheiten persönlich zu besprechen.

Gefechtspause auf den Äckern vor dem Krefelder Forstwald (Bild: US-Archiv)

Noch in der Nacht zum 1.3.1945 wurden unter ständigem Artilleriefeuer bis 2.00 Uhr die in der Anstalt lagernden Rohstoffe, wie Stoffe, Leder und anderer “schwer zu beschaffenden Gegenständen” auf Wehrmachtslastwagen verladen und nach Lüttringhausen abtransportiert.

Bereits am frühen Morgen des 1.3.45 teilte der Anrather Ortsgruppenführer der NSDAP (Plöcks) dem Strafanstaltsdirektor fernmündlich mit, daß der Feind Mönchengladbach und Viersen durchschritten habe und sich in breiter Front Anrath nähere. Wegen des schnellen Vormarsches der Amerikaner sei höchste Eile bei der Räumung der Anstalten geboten. Bereits um 12.30 Uhr des 1. März rollten die amerikanischen Panzertruppen in die Viersener Innenstadt ein und machten erst an der Niers halt, bis sie in den Abendstunden vom Bökel aus zunächst die Süchtelner- und Buschstraße besetzten (5). Nach der Meldung des Anrather Ortsgruppenleiters versuchte der Strafanstaltsdirektor vergebens, den Kreisleiter des Kreises Kempen (Kinkelin)oder einen seiner Vertreter zu erreichen, um die Räumung der Anstalt bestätigen zu lassen. Endlich erreichte er den Krefelder Kampfkommandanten (Oberleutnant Fritsche), der die sofortige Räumung der Anstalt für dringend geboten hielt. Nachdem morgens der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf gegen 7.30 Uhr von der Räumung fernmündlich unterrichtet war, löste der Anstaltsleiter durch Hornsignale “erhöhten Alarm” aus. Den erschienenen “Gefolgschaftsmitgliedern” wurde die sofortige Räumung der Anstalt eröffnet.

Anschläge der “Nazis” werden entfernt – wie hier am 6. März 1945 in Anrath (Bild: IWM – EA. 56115)

Sofort setzte eine hektische Betriebsamkeit ein. Verschlußsachen (Geheimpapiere) wurden verbrannt; im Männerhaus waren zwei Angestellte bis nachmittags damit beschäftigt, für 32 Männer und 267 Frauen Entlassungsscheine bzw. Urlaubsscheine auszustellen und die so Entlassenen mit ihren eigenen Sachen nach Hause zu schicken.

In aller Eile wurden die in der Männeranstalt noch verbliebenen 281 Gefangenen und im Frauenhaus die noch verbliebenen 422 weibl. Gefangenen umgekleidet. Jedoch blieb bei diesem Durcheinander nicht mehr die Zeit, alle Gefangenen einzukleiden. Ein Teil erhielten einfach ihre “Kleiderbeutel” worin die Privatkleidung aufbewahrt war, ein Drittel Brot und zwei Decken. Schließlich war es 16.00 Uhr geworden, bis sich die Gefangenenkolonne in Richtung Krefeld in Bewegung setzen konnte. Die Gelder und die Wertsachen der Gefangenen wurden einfach auf einen Handwagen geladen, der dem VerwaltungsInspektor Schwarz anvertraut wurde. Er wurde in einem späteren Bericht gerügt, weil er an der Krefelder Rheinbrücke mit der Begründung, er habe wunde Füße, den Handwagen einfach in Stich ließ und mit einem Kraftwagen, den er anhielt, verschwand.

Bis zum Abmarsch der Gefangenen war den Familien der Anstaltsbeamten die Möglichkeit eingeräumt worden, sich mit dem Lastwagen auf die andere Rheinseite bringen zu lassen. Von den damals im Anstaltsgebäude wohnenden 42 Familien machten nur vier Familien von diesem Angebot Gebrauch (6).

Bei der Vorbereitung der Räumung gab es besonders Arger mit den Beamtinnen des Frauenhauses, die sich weigerten, den Gefangenentransport zu begleiten. Viele versteckten sich und es fanden sich lediglich 4 weibl. Aufsichtsbedienstete bereit, mit abzumarschieren. Nicht anders war die Bereitschaft bei den männlichen Bediensteten, wo lediglich nur 8 Beamte bereit waren, mit abzumarschieren.

Die Amerikaner standen bereits an der Niers, als um 16.00 Uhr des 1.3.1945 insgesamt 372 weibliche und 281 männliche Gefangene in Marsch gesetzt wurden. Die Bewachung erfolgte neben den Anstaltsbeamten bzw. -Beamtinnen durch 10 Wehrmachtsangehörige. Zuvor hatte man die 42 Wehrmachtshäftlinge (zum Tode verurteilte Gefangene) durch Wehrmachtskraftwagen in Begleitung von zwei Strafvollzugsbeamten und entsprechendem Wachpersonal der Wehrmacht in das Gefängnis Duisburg-Hamborn gebracht. Lediglich 12 Militärgefangene mußten im Treck mitmarschieren. 34 besonders vorsichtig zu behandelnde Zivilgefangene (Persönlichkeiten aus den vormals besetzten Westgebieten) wurden ebenfalls mit einem Firmenwagen der Rheinischen Kunstseide AG. Krefeld nach Düsseldorf transportiert.

Nachdem sich der Gefangenentreck in Bewegung gesetzt hatte, der unter der Transportleitung des 1. Hauptwachtmeisters Lenzen vom Anstaltspersonal stand, rief der Strafanstaltsdirektor den Verwaltungsinspektor Vogt (66 Jahre) und den Betriebsleiter der Anstalt, Nauendorf (65 Jahre) und übergab ihnen die Anstalt und Anstaltsgebäude. Wie er selbst berichtete, verließ er dann unter ständigem Drängen des Ortskommandanten (Major Surmann) erst um 18.30 Uhr mit dem Oberinspektor Schwalbe, der zuvor die AnstaItskasse und die Kassenbücher in den Kraftwagen geladen hatte, Anrath über Nebenwege, da die Hauptstraßen wegen der inzwischen errichteten Panzersperren nicht mehr befahrbar waren. Unterwegs traf er auch den Anrather Ortsgruppenleiter und den Führer des Volkssturmes, die sich aus Anrath zurückzogen.

Alle Waffen müssen abgeliefert werden. (Bild: IWM – EA. 56991)

Die Gefangenen mußten entlang der Eisenbahnschiene durch den Wald in Hochbend marschieren. Dort nahmen die in Anrath wohnhaften Anstaltsbeamten, Werkführer Beusch, Oberwachtmeister Stevens und Hilfsaufseher Thelen die Gelegenheit wahr, “sich in die Büsche zu schlagen”, um zu verschwinden. Einige Gefangene folgten ungehindert diesem Beispiel.

Von den bewachenden Soldaten wurden kurzerhand 80 weibliche Gefangene laufen gelassen. Hilfsaufseher Heyer sandte gar zwei Gefangene von seiner Außenarbeitsstelle nach Düsseldorf, und ließ dort dem Strafanstaltsdirektor ausrichten, daß er selbst nicht kommen könne, da er in amerikanische Gefangenschaft geraten sei. Das Vieh und die Fahrzeuge vom Pachthof der Anstalt, dem Schloßmacherhof in Clörath (heute Siepen) konnten nicht mehr abgeholt werden, da er unvorbereitet von der Front überrollt wurde.

In Krefeld traf die Gefangenenkolonne gegen 20.30 Uhr ein. Dort wurden der Gestapo 103 “Schutzhäftlinge”, die in der Kolonne mitmarschiert waren, übergeben. Die restlichen 102 männlichen Häftlinge wurden am 2.3.45 um 6.00 Uhr weiter nach Düsseldorf in Marsch gesetzt, die dort um 17.00 Uhr eintrafen. In Düsseldorf wurden dann weitere 35 Gefangene entlassen, sodaß nur noch 67 Häftlinge verblieben, zu denen noch 109 Gefangene von den Anrather Außenarbeitsstellen gelangten. Die 12 Wehrmachtshäftlinge wurden dem Standortältesten in Düsseldorf übergeben. Die restlichen Gefangenen gelangten dann über Wuppertal am 5.3.1945 in Lüttringhausen an.

Wie die männlichen Gefangenen, wurden auch die weiblichen Gefangenen nach Krefeld verbracht wo sie mit wundgelaufenen Füßen und erschöpft ankamen. Sie konnten sich im Krefelder Gefängnis einige Stunden ausruhen, bevor am anderen Tag um 6.00 Uhr der Abmarsch nach Düsseldorf erfolgte. 68 weibl. Gefangene mußten wegen völliger Erschöpfung zurückbleiben, so daß in Düsseldorf schließlich 208 weibl. Gefangene landeten, die von dort aus dann per Bahn in die Anstalten Wuppertal und Lüttringhausen weitertransportiert wurden.

Doch zurück nach Anrath, wo ein Augenzeuge die Situation der Anrather Strafanstalt nach dem Abtransport der Gefangenen wie folgt beschreibt:

“Nachdem wir nun den ganzen Morgen (1. März) für die Gefangenen Entlassungsscheine geschrieben hatten, mußten Fieten Heinrich und ich nochmals alle im Anstaltsgebäude wohnenden Beamten auffordern, in der Anstalt zu erscheinen. Dann durften wir nach Hause fahren, denn wir hatten ja mit der Bewachung nichts zu tun. Da ich überhaupt nichts Eßbares im Hause hatte und ich nicht wußte, wie es anderntags aussehen würde, fuhr ich nochmals so zwischen 18.30 und 19.00 Uhr zur Anstalt, um zu versuchen, ob ich noch Brot bekommen würde.

Als ich in die Anstalt kam, waren dort alle Türen offen. So bin ich zur Bäckerei durchgegangen und dort waren doch tatsächlich noch zwei Gefangene am Brot backen. Es waren Holländer, die nach dem Abtransport zurückgekommen waren und auf die Amerikaner warteten. Als ich meinen Wunsch nach Brot vortrug, gaben sie mir fünf Kommisbrote. Der eine Holländer, der vier Sprachen sprach, sagte mir, ich solle um 8.00 Uhr nochmals kommen, dann wäre auch das Weißbrot fertig. Als ich zu Hause war, habe ich mir gedacht, da fährst du nicht mehr hin, denn die Amerikaner sind bereits schon seit 16.00 Uhr an der Niers und dann bist du dran, wenn sie dich in der Anstalt schnappen. Gegen 22.00 bis 22.30 Uhr waren dann die Amerikaner schon hier in der Busch- und Süchtelner Straße.” (7)

Auch in der Frauenanstalt versteckten sich sowohl Beamte als auch Gefangene. Eine Augenzeugin berichtet: “Ich hatte mich im Arztzimmer versteckt, das ich abgeschlossen hatte. Andere Beamtinnen hatten sich auf der Toilette versteckt, wir waren einfach nicht mehr da! Wir wollten doch unsere Angehörigen nicht in Stich lassen. Als es ruhig geworden war, sind wir dann herausgekommen. Da kommt doch meine Kalfakterin aus einer Zelle heraus, die hatte sich dort versteckt. Die hatte eine Zuchthausstrafe von 12 Jahren. Was sollte ich da machen? Ich habe sie dann einfach mit nach Hause genommen. Prälat Marschang (Anstaltsgeistlicher) hat ihr dann eine Stelle im Anrather Krankenhaus besorgt. Nach einem Wiederaufnahmeverfahren ist sie dann frei gesprochen worden.” (8)

Die Strafanstalt wurde erst am anderen Tag, den 2.3.45, von den Amerikanern besetzt. Im Dienstwohngebäude Gartenstraße 6 wurde die Kommandantur eingerichtet. Die im Anstaltsgelände verbliebenen Beamten fanden sich schließlich ein und wollten den Amerikanern die in der Anstalt verbliebenen Waffen übergeben. Doch sie wurden erst gar nicht angehört und sofort festgenommen und weggeführt. Nach einer mehrmonatigen Internierung in Belgien wurden sie dann wieder frei gelassen. Lediglich den Anstaltsbeamten Elsmann und Meiendresch begegneten die Amerikaner freundlich, da diese keine Mitglieder der NSDAP waren und sonst als sehr hilfsbereite und humane Beamte bekannt waren. Sie wurden vernommen und mußten den Amerikanern den Anstaltsbunker zeigen, wo verscharrte Leichen vermutet wurden. Doch sehr schnell klärte sich das Gerücht auf, denn in der Anrather Strafanstalt wurden nie Todesurteile vollstreckt. Auch haben keine sonstigen “Hinrichtungen” stattgefunden. (9) Für die Anrather Strafanstalt folgten nun schwere Zeiten. Es wurde eine Sammelstelle für ausländische Zwangsarbeiter eingerichtet, die in den beiden Anstalten gesammelt wurden, um in ihre Heimatländer zurückgeführt zu werden. Zuerst wurden die Holländer, dann die Franzosen und zuletzt die Russen abtransportiert.

Besonders die russischen Fremdarbeiter richteten erhebliche Verwüstungen an. Sie demolierten die Dienstwohnung des Anstaltsleiters und auch die des evangl. Anstaltsgeistlichen und plünderten, was zu holen war. Die Akten wurden vor den Häusern verbrannt. Leider ging hierdurch auch das Kirchenarchiv der Evangl. Kirche Anraths verloren, das sich im Dienstwohnungsgebäude des Anstaltsgeistlichen Hensen befand.

Die Fremdarbeiter richteten sich in den kleinen Zellen (8,4 qm) der beiden Anstalten häuslich ein und stellten dort kleine Öfen auf, die sie den Bürgern abgenommen hatten. Als Heizmaterial wurden Möbel aus den Dienstwohnungen des Anstaltsgeländes und Zellenmobilar verwendet. Weiteres Brennmaterial fand man in der Aktenkammer der Anstalt, wodurch wertvolles Archivmaterial vernichtet wurde. Ringsum wurden Bauernhöfe geplündert, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Etliche Fremdarbeiter nahmen so Rache an den Besitzern der Arbeitsstellen, wo sie Zwangsarbeit verrichten mußten. (10)

Die Einrichtungsgegenstände der Anstalt wurden demoliert, die Leitungen aus der Wand gerissen, die Toilettenlagen verstopft, sodaß man in den Anstaltshöfen Gruben aushob und dort Latrinen errichtete.

Sehr bald waren die Besatzungssoldaten nicht mehr Herr der Lage. Sie beriefen den früheren Anstaltsbeamten Meiendresch zum kommissarischen Anstaltsleiter, der die Anstalt organisieren sollte. Neben anderen Beamten (nur Beamte, die der NSDAP nicht angehörten) wurden auch die beiden Druckereibeamten Schmitz und Lünger verpflichtet, die die Druckerei wieder in Gang setzen mußten, um dort Drucksachen der Besatzungsmacht zu fertigen.

Es dauerte 2 Monate, bis die Anstalt wieder leer war. Frühere NSDAP-Parteigenossen wurden herangezogen, unter der Aufsicht der Besatzungssoldaten die Anstalt zu säubern. Die zerstörten Einrichtungsgegenstände wurden auf die Brangswiese neben Nefen gefahren und dort verbrannt.

Es wurde dann das Frauenhaus wieder zuerst belegt, mit Leuten, die von der Besatzungsmacht bestraft waren. Vorwiegend waren es Wirtschaftsvergehen. So wurde z.B. ein Mann eingeliefert, der ein Huhn schwarz gekauft hatte und dafür mehrere Jahre Gefängnis erhielt. Diese Strafen wurden jedoch bald wieder erlassen.

Es dauerte schließlich bis zum Herbst 1945, bis auch das Männerhaus wieder belegt werden konnte. Die früheren Anstaltsbeamten wurden nach ihrer “Entnazifizierung” wieder in Dienst genommen und allmählich trat den damaligen Umständen entsprechend wieder Ordnung ein.
Quellen:
1) Bericht des Anrather Strafanstaltsdirektors, Dr. Combrinck, an den Generalstaatsanwalt vom 31.3.1945 im Anstaltsarchiv der JVA Willich.
2) Ebenda und Augenzeugenbericht des Herrn Johannes Poos.
3) Geheimschreiben des Kampfkommandanten von Krefeld, Oberleutnant Weiß, vom 20.2.1945 an den Anstaltsdirektor Dr. Combrinck. Anstaltsarchiv der JVA Willich.
4) Die vom Anstaltsdirektor Dr. Combrinck entworfenen Richtlinien vom 2.2.1945 für die Räumung der Anrather Strafanstalt. Anstaltsarchiv der JVA Willich.
5) Ludwig Hügen: “Der Krieg geht zu Ende” – Schriftenreihe des Kreises Viersen 1974, S. 58.
6) Aufstellung der Dienstwohnungsinhaber des Männerstrafgefängnisses und Frauenzuchthauses von März 1945 im Anstaltsarchiv der JVA Willich.
7) Augenzeugenbericht von Herrn Ferdinand Belten, Süchtelner Str. 25, 4156 Willich 2.
8) Augenzeugenbericht von Frau Adele Benth, Bogenstraße 6, 4156 Willich 2.
9) Augenzeugenbericht des Herrn Johannes Poos, Schottelstraße, 4156 Willich 2.
10) Übereinstimmende Berichte der vorstehend genannten Augenzeugen. Fotos: Medienzentrum des Kreises Viersen.


Über den damaligen Anstaltsleiter Bodo Combrinck gab es den folgenden Wikipedia-Artikel (der aufgrund fehlender lexikalischer Relevanz inzwischen allerdings wieder aus der Wikipedia gelöscht wurde; hier wiedergegeben ist die letzte Version vor der Löschung vom 29.12.2009):

Bodo Combrinck (* am 10. April 1903 in Bocholt, † 1981) war ein deutscher Jurist und NSDAP-Mitglied.

Combrinck stammte aus einer Juristenfamilie. Sein Vater war Amtsgerichtsrat. Bevor er 1927 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln aufnahm, war Combrinck zunächst von 1922 bis 1926 im Bankfach und anschließend in Köln im Handel tätig. Nach einem Studienaufenthalt in Paris legte er im Februar 1932 die erste juristische Staatsprüfung ab. Seine Referendarzeit begann er beim Kammergericht in Berlin und setzte sie dann beim Oberlandesgericht in Köln fort. Im 1932 promovierte er zum Thema “Wahldelikte” an der Universität Köln. Nach dem Assessorexamen trat er in den preußischen Staatsdienst ein.

Combrinck war Mitglied der NSDAP und wurde unter anderem in der Ordensburg Vogelsang in der Eifel geschult. Von 1939 bis zum 2. März 1945, dem Tag des Einmarsches der Amerikaner in Anrath, war er Leiter des Anrather Männergefängnisses und Frauenzuchthauses. Nach dem Krieg war Combrinck nicht mehr im Justizdienst tätig.

Im Anrather Gefängnis wurden seit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten besonders viele politische Gefangene interniert. Unter ihnen befanden sich der österreichische Abt Bernhard Burgstaller und die Nichte des französischen Außenministers Georges Bidault. Laut Auskunft ehemaliger Anrather Gefangener richtete Combrinck sein tägliches Leben an den Grundsätzen des NS-Terrors aus. Kleinste Verfehlungen der politischen Gefangenen verfolgte Combrinck mit äußerster Härte. Gefangene wurden deshalb zum Rapport geladen. Wegen Beschädigung eines Kruges, der einem Häftling aus Schwäche aus den Händen gefallen war, verhängte Combrinck zweimal Nachtarrest. Das bedeutete Schlafen ohne Matratze auf dem Steinfußboden.