Vor 100 Jahren wurde die Evangelische Kirche in Anrath erbaut und eingeweiht. Das Jubiläum wurde Ende Oktober 2010 mit einem Festwochenende begangen. Das Kirchengebäude steht seit 1984 unter Denkmalschutz.
aus der Westdeutschen Zeitung vom 06.03.2010
„Kirchlein“ für Anrath
von Werner Dohmen
Vor 100 Jahren ist der Grundstein für die Evangelische Kirche gelegt worden. Erster Pfarrer im Ort war Karl Echternacht.
Anrath. 6. März 1910: Für die kleine evangelische Gemeinde von Anrath ist es ein großer Tag. Am Ortsrand in Richtung Vorst wird an der Bahnstraße (heute: Jakob-Krebs-Straße) der Grundstein für eine eigene Kirche gelegt. Schon seit drei Jahren steht an gleicher Stelle eine Kapelle, die nun den Eingangsbereich des neuen Gebäudes bilden soll.

„Die Feier war vom herrlichsten Frühlingswetter begünstigt“, erinnert sich später Superintendent Bungeroth aus Mönchengladbach. Baukosten in Höhe von 25.000 Mark waren für das „Kirchlein“, so Bungeroth, kalkuliert worden. Schon ein halbes Jahr später, am 6. November, wurde die Einweihung gefeiert.
Dass in diesem Jahr 100-jähriges Bestehen der evangelischen Kirche begangen werden kann, hat die Gemeinde auch ihrem ersten Pfarrer zu verdanken. Karl Echternacht war am 1. Oktober 1904 als Seelsorger für die neu erbauten Gefängnisse nach Anrath gekommen. Mit deren Gründung hatten sich immer mehr evangelische Beamte in dem bis dahin urkatholischen Ort angesiedelt: Wurden 1880 gerade mal sechs Protestanten in Anrath gezählt, waren es im Jahr 1905 schon 125.

Doch wo sollten Gottesdienste gefeiert werden? Innerhalb der Gefängnismauern war dies aus disziplinarischen Gründen nicht möglich, wie Hobby-Historiker Manfred Fabianke im Kreisheimatbuch 2004 schreibt. An der Bahnstraße 120 (heute: Jakob-Krebs-Straße 128) wurde daher in einem Privathaus ein Gebetsraum angemietet. Dort gab es am 5. November 1905 den ersten öffentlichen evangelischen Gottesdienst im Ort.
Gemieteter Gebetsraum wurde schnell zu klein

Der Raum wurde für die weiter wachsende Gemeinde bald zu klein. Pfarrer Echternacht und andere Gemeindemitglieder gründeten einen Kirchbau-Verein, ein Grundstück wurde gekauft. Da der Eigentümer des Hauses an der Bahnstraße zum 1. April 1907 zudem Eigenbedarf für den Gebetsraum anmeldete, wurde auf dem gekauften Grundstück im gleichen Jahr ein Konfirmandensaal errichtet, der dann als Notkirche diente.
Pfarrer Karl Echternacht
„Unermüdlich“, so der Superintendent, arbeitete Echternacht neben seiner offiziellen Tätigkeit im Gefängnis daran, auch außerhalb der Mauern ein Gemeindeleben aufzubauen. Mit Erfolg: 1910 konnte mit der Errichtung der Kirche begonnen werden. Anders als zunächst kalkuliert, durften die Gefangenen allerdings nicht an dem Bau mitwirken, was die Kosten in die Höhe trieb. Nur an der Innenausstattung waren sie beteiligt.
Pfarrer Echternacht blieb noch vier Jahre in Anrath, dann ließ er sich als Gefängnisseelsorger nach Rheinbach bei Bonn versetzen: Die Arbeit innerhalb und außerhalb der Mauern hatten seiner Gesundheit zugesetzt. Am 16. April 1914 wurde seine Verabschiedung gefeiert. In Rheinbach blieb Echternacht bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1932. Er starb 1955 mit 89 Jahren.
Die Rheinische Post veröffentlichte zum Jubiläum eine dreiteilige Serie von Willi Schöfer:
Teil 1 – RP vom 26.10.2010
Ein „Kirchlein“ als Lebenstraum
An den Bau der evangelischen Kirche Anraths vor exakt hundert Jahren soll am 31. Oktober mit Festgottesdienst und -konzert erinnert werden. In einer kleinen Serie stellen wir die Entwicklung der evangelischen Gemeinde vor.
Großer Auflauf bei der Grundsteinlegung der ersten evangelischen Kirche in Anrath am 6. März 1910.
Laut historischen Aufzeichnungen sollen Anfang des 20. Jahrhunderts im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft einige Herren gesessen haben, die über den Aufbau einer evangelischen Gemeinde und den Bau einer Kirche nachdachten. Jedesmal wenn der Wirt die Biere an den Tisch brachte, verstummte das Gespräch. Das Projekt wurde zu einer „geheimen Kommandosache“, denn über eine Lobby verfügten die damals etwa 200 Evangelischen im Dorf nicht. Es wurde schon die Nase gerümpft, wenn man einen einheimischen Katholiken im Gespräch mit einem „Andersgläubigen“ sah.
Eine Heirat zwischen den beiden Konfessionen war zum damaligen Zeitpunkt undenkbar. Einer der großen Fürsprecher für eine eigene kleine Gemeinde war Gefängnispfarrer Karl Echternacht, der als erster evangelischer Pfarrer 1904 in das kurz darauf fertig gestellte neue „Königliche Zellengefängnis“ gekommen war. Und mit den Gefangenen kamen auch evangelische Handwerker und Beamtenfamilien nach Anrath.
Geldgeber
Geld: Durch Spenden kam beim Neubau der ersten evangelischen Kirche von Anrath einiges zusammen. Die Provinzialsynode gab 8000 Mark, der Oberkirchenrat 5000 Mark.
Glocken: Hinzu kamen Spendengelder der Gustav-Adolf-Vereine im Rheinland, Westfalen und Sachsen, die unter anderem für eine der drei Glocken 390 Mark übergaben.
Fenster: Aber auch einzelne Gemeindeglieder stifteten unter anderem damals die fünf Medaillonfenster, die Mose, Paulus, Luther, Calvin und Gustav Adolf von Schweden zeigen. Ein „Fräulein Adele Greef“ aus Viersen spendete das leuchtende Fenster in der Wölbung der Kirche.
Im Jahr 1907 lebten im Dorf 82 evangelische Christen und 115 in der „Beamtenkolonie“ am Gefängnis, aus den benachbarten Honschaften kamen weitere rund 30 Seelen hinzu. Wie Manfred Fabianke im Anrather Heimatbuch schrieb, war die Zahl der evangelischen Christen in Anrath sprunghaft nach oben gegangen. Denn im Jahr 1885 waren sie noch an fast einer Hand abzuzählen: Es waren genau sieben!
Zu den Gottesdiensten traf man sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in einem Privathaus in der Nähe des Bahnhofes an der damaligen Bahnstraße, der heutigen Jakob-Krebs-Straße. Dort hatte Pfarrer Echternacht einen Raum angemietet, in dem am 5. November 1905 der erste öffentliche evangelische Gottesdienst in Anrath stattfand. Wegen der Enge erlebten viele Besucher den Gottesdienst vom Flur aus.
Die regelmäßigen Treffs in Kneipen und Wohnstuben setzten sich fort. Denn es war Eile geboten: Der Eigentümer des Hauses, in dem die Gottesdienste stattfanden, meldete kurze Zeit später Eigenbedarf an. 1906 wurde der evangelische Kirchenbauverein gegründet. Schnell kamen die ersten 50 Mitglieder zusammen, der Monatsbeitrag belief sich auf eine Mark. Viele spätere Mitglieder müssen allerdings schon früh auf Spendensuche gegangen sein. Denn etwa ein Jahr zuvor war schon von Landwirt Hammes für 8585 Mark ein Grundstück an der Jakob-Krebs-Straße erworben worden. Die Baupläne wurden entworfen. Bereits 1907 konnte man in einem provisorisch hergerichteten Konfirmandensaal, also in einer kleinen „Notkirche“, auf dem neuen Kirchengrundstück die Gottesdienste feiern.
Zur Grundsteinlegung der ersten evangelischen Kirche von Anrath kam es am 6. März 1910. Ein ständiger Begleiter des Baus war der Mönchengladbacher Superintendent Bungeroth, der mit vielen Christen die Kirche am Reformationstag 1910 ihrer Bestimmung übergab. Der Superintendent sprach zwar von einem „Kirchlein“, das für rund 25 000 Mark gebaut worden war, war aber genau so stolz wie Pfarrer Echternacht, für den ein Lebenstraum in Erfüllung ging. Bis 1914 sollte Echternacht die junge evangelische Kirchengemeinde leiten. Er ging noch im gleichen Jahr als Gefängnisseelsorger nach Rheinbach. Er starb 1955 mit 89 Jahren.
Teil 2 – RP vom 27.10.2010
Der Weg zur eigenen Gemeinde
1914 übernahm Pfarrer Richard Bölsche die Gemeinde. Der Seelsorger aus Potsdam kam im Januar 1929 durch einen tragischen Unglücksfall ums Leben: Der Pfarrer stieg bei dichtem Nebel am damals noch ungesicherten Anrather Bahnhof zu früh aus dem Zug und wurde von einem entgegenkommenden D-Zug erfasst. Im Anrather Heimatbuch des Jahres 1991 nennt der Heimatkundler Manfred Fabianke seinen Nachfolger: Pfarrer Paul Henßen aus Ammern bei Mühlhausen (Thüringen), der am 9. September 1929 zunächst auf Probe seinen Dienst antrat. Er sollte bis 1950 die immer noch nicht eigenständige evangelische Anrather Gemeinde leiten.
In der Zwischenzeit wurde das Leben in der Gemeinde immer reger. 1924 hatte Wilhelm Neuschäfer mit einigen jungen Männern den Anrather CVJM gegründet. Dies stand damals für den „Christlichen Verein Junger Männer“. Da im Laufe der Zeit immer mehr Frauen am Gemeindeleben aktiv teilnahmen, wurde daraus aber erst viel später der „Christliche Verein Junger Menschen“. Übrigens sollte der Name „Neuschäfer“ in der evangelischen Gemeinde Anrath bis heute zu einem „Markenzeichen“ und zu einer Institution werden. Wilhelm Neuschäfer war unter anderem jahrzehntelang Organist, Kirchmeister, Rendant und Presbyter. Sohn Ernst, der am 9. November 80 Jahre alt wird, singt immer noch im Kirchen- und im Gospelchor, spielte bis vor zwei Jahren noch die Tuba im von ihm einst mit gegründeten Posaunenchor, war in zahlreichen Gremien und ist im Bastelkreis aktiv.
Zurück ins Jahr 1933. Der Kampf der Nazis gegen die Kirche machte sich auch in Anrath bemerkbar. Der Kirchenbesuch und die Anzahl der Mitglieder ging in den 30er Jahren deutlich zurück. Von der Kanzel musste Pfarrer Henßen am Erntedankfest 1939 verkünden, dass aus Gründen der Landesverteidigung (!) das Läuten der Kirchenglocken bis auf weiteres zu unterbleiben hatte. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs traf ein deutsches Geschoss die Seitenwand der evangelischen Kirche. Im Inneren blieb das Geschoss als Blindgänger liegen. Amerikanische Soldaten entschärften es und behoben die ersten Schäden, um sich selbst dort zu Gottesdiensten zu versammeln.
Ab Juni 1945 nahm die Gemeinde ihre Arbeit wieder auf. Die Vertriebenen und Flüchtlinge kamen nach Anrath. Die Zahl der evangelischen Christen wuchs schnell von 200 auf mehr als 1200 an. Aus Krankheitsgründen ging Pfarrer Henßen 1950 in den Ruhestand. Im Mai des gleichen Jahres konnte man bereits den neuen Pfarrer Eckehard Götz aus Rheydt-Odenkirchen begrüßen.
Das Presbyterium beschloss am 12. Juni 1950 die Gründung einer selbstständigen Kirchengemeinde. Die Landeskirche reagierte im Oktober 1952: Ab diesem Zeitpunkt wurden die evangelischen Dorfgemeinden Anrath und Vorst als eigene Gemeinde miteinander verbunden. Auch eigene Neersener Honschaften und Außen-Wohnbereiche wie Bökel, Clörath, Giesgesheide, Hoffbruch und Vennheide wurden von Anrath mitbetreut. Die Mitgliederzahl stieg weiter und war bereits 1953 mit Vorst zusammen bei etwa 3500 angelangt.
Teil 3 – RP vom 30.10.2010
Das Gemeindeleben bis heute

Ein Bild aus dem Jahre 1953: Kinder und Jugendliche, die zur Konfirmation gingen, haben sich vor der evangelischen Kirche in Anrath versammelt. Foto: Stadtarchiv
Nachfolger von Ekkehard Götz, der 1956 eine neue Aufgabe in Neuwied übernahm, wurde Pfarrer Ernst Quack. Da er aber erst einige Monate zuvor aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen war, konnte er seinen Dienst nicht sofort antreten. Neun Monate half Pfarrer Paul-Gerhard Aring in Anrath aus, der später als Missionar in Indonesien arbeitete. Am 4. November 1956 kam es zur feierlichen Ordination und Amtseinführung von Ernst Quack, der auch für Vorst und Neersen zuständig war und bis 1984 blieb.Erstes Pfarrhaus
In der langen Amtszeit breitete sich die evangelische Gemeinde auch baulich aus. So waren im August 1959 das neue Jugendheim und das erste Pfarrhaus an der Gietherstraße fertig. 1962 kam es zur Gründung der evangelischen Kirchengemeinde Schiefbahn-Neersen. Wie in früheren Zeiten wurden weiterhin die Außenbereiche Bökel, Clörath, Giesgesheide, Hoffbruch und Vennheide kirchlich von Anrath aus betreut und verwaltet. In Vorst stand seit 1955 eine kleine Holzkirche mit einem Glockentürmchen. In der neuen Kirche an der Lutherstraße wurde am 22. März 1970 der erste Gottesdienst gefeiert.
Ins neue Pfarrhaus in Anrath zog dann Pfarrer Klaus Müller, der den Anrather Gemeindebezirk im November 1984 übernahm. Wenige Monate zuvor war die Kirche zum Denkmal erklärt worden. Die noch junge evangelische Gemeinde Anrath-Vorst bekam ein Jahr später eine zweite Pfarrstelle genehmigt: Ins Vorster Pfarrhaus zog im August 1985 Bernd Pätzold mit seiner Familie.
Die evangelische Kirche in Anrath erhielt derweil im Dezember 1986 eine neue Orgel. Und noch weitere Pfarrer: 1992 kam Richard Schmiedeke und seit 2003 leitet Pfarrer Michael Striss den Anrather Bezirk mit seinen rund 2500 evangelischen Christen.
In Anrath wird seit Jahrzehnten in vielen Gemeinschaften, Gruppen und Chören der Zusammenhalt allwöchentlich durch Treffs und Aktionen von jüngeren wie älteren Mitgliedern unter Beweis gestellt. Durch den Bau des Anrather Gemeindezentrums, das im April 1992 eingeweiht wurde, nahmen die Aktivitäten noch zu. Ein unverzichtbarer Begleiter ist zum Beispiel der Kirchenchor, der bereits im März 1910 namentlich erwähnt wurde. Seit vielen Jahrzehnten ist der Posaunenchor dabei, gibt es unter anderem zahlreiche CVJM-Gruppen, Freizeiten oder einige Hauskreise, die sich reihum in Wohnungen treffen und über den christlichen Glauben im Alltag sprechen. Ökumene wird ebenfalls großgeschrieben. Erst kürzlich fand in Anrath eine „ökumenische Kirchenmeile“ statt. Junge Teenager – gleich welcher Konfession – Singen, Tanzen und Schauspielern im Ensemble „TenSing“.Mit geistlichem Leben füllen
„Unsere Kirche kann sich jetzt wieder sehen lassen“, sagt Pfarrer Michael Striss (48). Er weist darauf hin, dass das Haus erst vor wenigen Wochen einen neuen Anstrich, eine bessere Beleuchtung und eine modernere Tontechnik erhalten hat. Sein Dank geht an die vielen Helfer und an den Baukirchmeister Michael Ehmann. Die Gottesdienste hatten zwischenzeitlich im angrenzenden Gemeindehaus stattgefunden. Der persönliche Wunsch von Pfarrer Michael Striss: „Dass sich die Kirche und das Gemeindehaus weiterhin mit geistlichem Leben füllen.“