Teil 1

1. Die Pfarrkirche als Keimzelle Anraths
2. Anrath – Das Dorf ohne Land
3. Harmen und Lambert Doomer
4. Anrath unter der Tricolore


1. Die Pfarrkirche als Keimzelle Anraths

Tafel 1

Die Urkunde mit der ersten Erwähnung Anraths

Tafel 2

1010 – Wie alles begann

Die Ereignisse rund um die Gründung der Pfarrgemeinde St.Johannes Anrath liegen weitestgehend im Dunkeln. Das ist verständlich, liegen aus dieser Zeit doch nur wenige schriftliche Quellen vor und war Anrath doch damals nur eine kleine, unbedeutende Siedlung.

Wir müssen uns auf die Aussagen des Kempener Chronisten Johannes Wilmius (1586-1655) verlassen, der zu seinen Lebzeiten Einblick in Urkunden hatte, die in den folgenden Jahrhunderten leider verloren gegangen sind. Nach Wilmius stand die Anrather Kirche einige Jahrhunderte lang in Abhängigkeit von der St.Peter-Kapelle vor Kempen – das heißt, dass hier bereits weit vor 1010 eine Siedlung existierte.

Die Forscher gehen davon aus, dass es schon zur Zeit Karls des Großen – also um 800 – in Anrath einen kaiserlichen Fronhof gab. Dieser lag vermutlich am Ort der heutigen Alleeschule. Wahrscheinlich wurde auch schon um 850 eine erste kleine Holzkapelle errichtet.

Fest steht dagegen, dass die Anrather Kirche vor tausend Jahren, also 1010, vom Kölner Erzbischof Heribert von der Kempener Mutterkirche getrennt und zur selbständigen Pfarre erhoben wurde.

Die Beweggründe Heriberts liegen im Dunkeln. Ausschlaggebend dürfte jedoch neben der ständig wachsenden Bevölkerung der schon damals außerordentlich große Sprengel (also Wirkungskreis) der Anrather Kirche gewesen sein.

Die neu gebildete Pfarre Anrath ging nämlich weit über die heutigen Ortsgrenzen hinausging. Sie umfasste den Flecken Anrath selbst, die Bauerschaften Kehn und Kleinkempen, die zum Amt Oedt gehörenden Honschaften Hagen und Clörath/Unterbruch sowie die Dörfer Schiefbahn (bis 1548) und Neersen (bis 1798).

Aus dem Jahre 1020 stammt das erste schriftliche Zeugnis über Anrath: In der Gründungsurkunde der Benediktinerabtei Deutz überträgt Erzbischof Heribert von Köln seiner Neugründung unter anderem den Zehnten der Kirche in Anrode.

Aufgrund dieser Übertragung können wir davon ausgehen, dass Anrath zu diesem frühen Zeitpunkt bereits eine prosperierende Siedlung mit einer durchaus nennenswerten Zahl von Höfen war. Denn der Anrather Zehnt sollte ja der wirtschaftlichen Sicherung des neu errichteten Klosters dienen und das Kloster Deutz war sicherlich ein Lieblingskind des Erzbischofs !

Im Jahre 1896 entstand dieses Bild der alten Anrather Pfarrkirche. Es zeigt die Sicht von der Schottelstraße Die Kirche entstand in mehreren Bauphasen; aus dem 12.Jahrhundert stammte zum Schluss nur noch der Unterbau des Turmes.
Auf einem seiner 1956 gestalteten Kirchenfenster verewigte Wilhelm Teuwen den Heiligen Heribert als Begründer der Pfarre Anrath. In seiner rechten Hand hält der Bischof eine Figur des Pfarrpatrons Johannes.
Im Neubau von 1898 integrierte Architekt Josef Kleesattel vier Säulen aus der alten Kirche. Diese stammen noch aus der ersten Bauphase des 12.Jahrhunderts.
Im Archiv des Landschaftsverbands Rheinland findet sich dieser Grundriss der alten Pfarrkirche. Die Ungleichmäßigkeit des Grundrisses zeigt, dass die Kirche in mehreren Bauphasen entstand. So wurde das untere, südliche Seitenschiff erst im 14.Jahrhundert errichtet. Es war länger und höher als die vorhandenen Schiffe.
Auf der biblischen Erzählung von der Enthauptung Johannes des Täufers beruht die so genannte Johannesschüssel, eine Ikone zur Verehrung des Heiligen. Diese plastischen Darstellungen werden besonders bei Kopfleiden vom Volk verehrt und in Hospitälern zur Schmerzlinderung herumgereicht.
Die Anrather Johannesschüssel stammt aus dem Jahre 1668 und wurde von Freiherr Adrian Wilhelm von Virmond und seiner Gemahlin gestiftet.

Tafel 3

Die Anrather Pfarrkirche im Wandel der Jahrhunderte

Die Pfarrkirche St.Johannes durchlief vier große Bauphasen: Die erste, dem kurfürstlichen Herrenhof Anrode zugehörige Kirche, ist in den Quellen nicht nachweisbar. Das Patrozinium Johannes des Täufers lässt darauf schließen, dass sie um 850 gegründet wurde. Im Gegensatz zu den meist steinernen städtischen Kirchen wird es sich wohl eher um eine schlichte Holzkapelle gehandelt haben.

Bis zur Mitte des 12.Jahrhunderts war diese erste Anrather Kirche entweder zerstört oder für die wachsende Bevölkerung zu klein geworden. Deshalb wurde in dieser Zeit die zweite Anrather Kirche errichtet – eine romanische Landkirche. Diese zeichneten sich aus durch einen starken Turm sowie drei Schiffe mit erhöhtem Mittelschiff und halbrunden Chorabschlüssen.

Von diesem Gotteshaus blieb einzig der Unterbau des Turms bis zum Abbruch der alten Kirche erhalten. Nicht überliefert ist, wie der übrige Bau ausgesehen haben könnte. Wie der Turm wird er auch aus Tuffstein bestanden haben. Außerdem ist anzunehmen, dass es sich ganz im Stil der Romanik um einen gedrungenen, dunklen Bau mit dicken Mauern und kleinen Festern handelte.

In der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts wurde der bis dahin zweischiffige Bau um ein südliches Seitenschiff im Stile der Gotik erweitert. Dieses war mit großer Wahrscheinlichkeit länger und höher als die beiden vorhandenen Schiffe. Durch die sieben Fenster in der Südwand wurde der dunkle Innenraum der Kirche endlich beleuchtet.

Im 16.Jahrhundert werden die beiden alten, romanischen Schiffe im Stile der Gotik umgebaut. Eine andere Theorie besagt, dass die alten Baukörper komplett niedergelegt wurden – dem widersprechen aber die noch erhaltenen romanischen Säulen in diesem Bereich.

Ergebnis dieser Bauphase war, dass alle drei Schiffe die gleiche Innenhöhe hatten. Der nach Osten liegende Hauptchor wurde 1509 fertig gestellt, vier Jahre später wurde die Kirche geweiht – endgültig beendet wurden die Arbeiten jedoch erst gegen 1600.

Die Herrlichkeit Anrath-Neersen war mitnichten ein kompaktes Territorium – sie ähnelte eher einem Flickenteppich: Der Vogt residierte auf Schloss Neersen, ihm unterstand das Dorf bis zum Schwarzen Pfuhl, nördlich davon die Kapelle, der Bonacker und die Ziesdonk.
Hauptort der Herrlichkeit war jedoch Anrath – wohlgemerkt nur das Dorf, die Umgebung gehörte bereits zum Amt Kempen. Fast schon Exklaven stellten die Flur „Im Fonger“ in der Niederheide, der Bökel und die Höfe „Am Stock“ dar.
Der Kirchhof, also der Bestattungsort der Anrather, lag viele Jahrhunderte lang unmittelbar an der Kirche. So kam es immer wieder vor, dass Kinder beim Spielen auf Gebeine stießen. Deshalb beschloss der Kirchenvorstand 1889, den Kirchhofsbereich mit Sand aufzufüllen.
Trotzdem tauchten auch später immer noch Skelette auf, wie hier bei Kanalarbeiten im Jahre 1980
Die einzige Darstellung des Innenraums der alten Pfarrkirche verdanken wir dem „Malbauern“ Peter Grefertz. Sie untermauert die Beschreibung des Landesrestaurators Paul Clemen aus dem Jahre 1893: „Das Innere der Kirche ist durch das Missverhältnis zwischen Höhe und Ausdehnung von wenig glücklicher Wirkung und macht einen gedrungenen Eindruck“
Am 12.Juli 1840 wurde der Kirchturm vom Blitz getroffen. Der entstandene Brand konnte zwar gelöscht werden, doch die oberen Stockwerke waren nicht mehr zu retten. In den Folgejahren wurde der obere Teil des Turmes wiedererrichtet und dabei um eine Geschoss erweitert. Auf dem Bild aus dem Jahre 1896 ist der bauliche Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Teil des Turmes gut zu erkennen.

Im Wortlaut:
„… ind wijsten zum ijrsten, dat sij eynen ertzebusschoff zer zijt ind dat gestichte van Colne vur eynen oyversten herren alda halden; ind dat alle gewalt alda sijn ind des gestichts vurschreven syn, ind den voycht van der Nersen vur eynen erffvaicht.“
(Die Anrather bestätigen, dass der Kölner Erzbischof seit jeher ihr Landesherr ist) Anrather Weistum von 1381 (Ein Weistum ist die von rechtskundigen Männern erteilte Auskunft über einen bestehenden Rechtszustand oder das geltende Gewohnheitsrecht. Weistümer sind ländliche Rechtsquellen.)

Anrath als Hauptort der Herrlichkeit Neersen

Grundherr in Anrath war der Erzbischof von Köln – dies bestätigten die Anrather ausdrücklich in einem Weistum aus dem Jahre 1381.

Das kurkölnische Territorium war untergliedert in Ämtern, die in Größe und Funktion den heutigen Landkreisen ähnelten. Neben diesen Ämtern gab es noch eine Reihe von Herrlichkeiten. Bei einer Herrlichkeit übte nicht der Lehensherr selbst, in diesem Fall der Erzbischof, sondern ein in seinen Diensten stehender Lehensträger die Macht aus. Anrath gehörte zu einer dieser Herrlichkeiten – der Herrlichkeit Anrath-Neersen im Besitz der Vögte von Neersen, später dann der Freiherrn und Grafen von Virmond.

Hauptort der Herrlichkeit war das Dorf Anrath, wobei wirklich das Dorf in seinen engsten Grenzen gemeint ist. Das Umland gehörte bereits zum Amte Kempen. Von einem einheitlichen Gebilde kann also definitiv nicht die Rede sein. Und so hat man auch Verständnis für den kurkölnischen Landmesser Sandfort, der 1791 frustriert erklärte, er habe nirgendwo mehr Unklarheiten und Zwistigkeiten über die Grenzen gefunden als in der Herrlichkeit Anrath-Neersen.

Anrath entwickelte sich bereits im Hochmittelalter zu einer beachtlichen Siedlung. Als Indiz für die Zunahme der Bevölkerung kann die Tatsache betrachtet werden, dass die für Anrath 1025 erstmals in den Quellen erwähnten vier Bauernschaften bis 1211 um zwei Bauernschaften anwuchsen. So war Anrath von allen vier Willicher Stadtteilen derjenige, der sich in Mittelalter und Früher Neuzeit am weitesten in Richtung einer Kleinstadt entwickelte, ohne aber jemals formell Stadtrechte zu erhalten.

Einen weiteren Anschub erhielt das prosperierende Dorf im Jahre 1414: Mit einer am 25.November ausgestellten Urkunde erlaubte Kaiser Sigmund dem Vogt Heinrich von der Neersen, in Anrode einen Wochenmarkt abzuhalten.

Die Befestigung des Dorfes Anfang des 15.Jahrhunderts dürfte im Zusammenhang mit der Verleihung der Marktrechte zu sehen sein. Durch diese Befestigung mit Graben, Wall und vier Toren wurde aus Anrath ein Flecken, ein Mittelding zwischen Dorf und Stadt.

Tafel 4

Der Flecken Anrath um 1600

2. Anrath – Das Dorf ohne Land

Tafel 5

Anrath – viele Handwerker, wenige Bauern

Der Niederrhein und damit auch das Willicher Land waren viele Jahrhunderte lang agrarisch geprägt – etwa 2/3 der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft.

In Anrath – dem „Dorf ohne Land“ – stellte sich die Situation anders dar, hier waren die Einwohner hauptsächlich im Handwerk beschäftigt. Gottfried Kricker hat die berufliche und soziale Struktur Anraths mit großer Genauigkeit überliefert: Im Jahre 1660 befanden sich unter den rund 225 berufstätigen Einwohnern des Dorfes 112 Angehörige des Handwerks – die Hälfte der Einwohnerschaft verdiente ihren Lebensunterhalt also durch handwerkliche Arbeit. Sie hatten im Dorf Haus und Garten, vor den Toren ihr Ackerland, das allerdings nur wenige Morgen umfasste.

Landwirtschaftlich tätige Menschen waren im Dorf dagegen nur schwach vertreten – gerade einmal 19 Einwohner hatten umfangreichere Grundstücke.

Anrather Gewerbetätige im Jahre 1660
225 berufstätige Einwohner,
davon

  • 112 Handwerker
  • 19 Bauern
  • 56 Knechte und Mägde
  • 8 Wirte
  • 30 sonstige Gewerbetreibende

Anrath und Willich, zwei unterschiedliche Nachbarn

 EinwohnerFläche
(Morgen)
Einwohner
pro m²
WeberAckerflächeZahl der
Ackerer
Knechte/
Mägde
Anrath3.5052.8561224071.802 Mg.5042
Willich3.81014.4643826010.830 Mg.170413
Der Flöthhof gilt als der älteste noch erhaltene Bauernhof Anraths. Er wurde 1636 im sumpfigen Randgelände des Flöthbachs mitten im Wald errichtet. Der Kern des Gebäudes wird sogar auf die Zeit zwischen 1000 und 1100 datiert. Der Hof entspricht nicht, wie sonst am Niederrhein üblich, dem niederrheinischen Hof oder einer fränkischen Hofanlage, sondern hat die typischen Grundformen eines niederrheinischen Sachsenhauses mit dreigeteiltem Mittelschiff.
Bis zur Aufgabe der Landwirtschaft im Jahre 1922 befanden sich Stallungen, Scheune und Wohnräume unter einem Dach. Der Kieselsteinboden aus der Küche, welcher aus dem 18.Jahrhundert stammte, wurde 1960 ins Freilichtmuseum Kommern übernommen, als die ehemalige Küche zum Flur umgestaltet wurde.
Minchen Nefen beim Melken, Aufnahme aus dem Jahre 1925.
Mann bei der Rübenernte

Armut durch Erbteilung

Als höchst problematisch erwies sich das jahrhundertlang praktizierte Prinzip der Realteilung beim Erbgang, wonach der Besitz des verstorbenen Hofbesitzers gleichmäßig unter den erbenden Söhnen und Töchtern aufgeteilt wurde. Die Höfe wurden so regelrecht zerstückelt und die kleinen Parzellen konnten eine Familie kaum ernähren.

Das sogenannte Anerbenrecht, bei dem das ganze Erbe einem Kind zufiel, das dann die Geschwister auszahlte oder anderweitig abfand, dürfte nur bei wirtschaftlich bessergestellten Familien praktiziert worden sein. Er setzte ein gewisses Vermögen voraus und konnte deshalb bei kleinen Bauern nicht angewandt worden sein.

Die Gesindeordnung von 1878
Aus dem Jahre 1878 ist eine Gesindeordnung überliefert, die von 125 wohlhabenden Landwirten in Willich, Osterath und Anrath festgehalten wurde.

  • Der Arbeitsvertrag lief über ein Jahr – von Ostern bis Ostern
  • Die wöchentliche Arbeitszeit betrug 65 Stunden
  • Arbeitsanfang war um 6 Uhr morgens, Arbeitsende um 19 Uhr
  • Um 12 Uhr wurde eine einstündige Mittagspause eingelegt
  • An Sonn- und Feiertagen war frei, sobald das Vieh versorgt war
  • Es gab zwei Urlaubstage für Fassnacht und Kirmes

Der Jahresverdienst eines Melkers betrug 648 Mark, der eines Pferdeknechtes 450 Mark, eine Dienstmagd verdiente dagegen nur 204 Mark. Kost und Logis wurden zusätzlich gewährt.
Ende des 19.Jahrhunderts wanderten in der Landwirtschaft tätige Knechte und Mägde massenweise in die Industrie ab, die ihnen weitaus höhere Löhne und meistens auch bessere Arbeitsbedingungen bot.

Der Bedarf an Arbeitskräften am Beispiel des Uellertzhofes

Für den Uellertzhof im Kehn ist das landwirtschaftliche Hilfspersonal für die Zeit von 1895 bis 1910 dokumentiert. Der Hof umfasste damals 100 Hektar Land, hielt etwa 20 Milchkühe und einige Arbeitspferde. Für die anfallenden Arbeiten wurden benötigt: • 1 Schweitzer (Melker)
• 1 Pferdeknecht
• 1-2 Arbeitsknechte
• 1 Magd

Überraschend ist die hohe Fluktuation des Personals: Im Laufe von 11 Jahren arbeiteten auf dem Uellertzhof 93 (!) Personen, die zumeist von Gesindemaklern vermittelt wurden.

Tafel 6

Lambert Doomer: Bäuerliches Leben

Tafel 7

Anrath – Ein Weberdorf

In jedem bäuerlichen Anwesen stand zumindest ein Webstuhl, manchmal war es nur ein bescheidener Webrahmen. Man verarbeitete die auf dem eigenen Land angebauten oder vom eigenen Vieh stammenden Rohmaterialien, also Schafswolle und Flachs.Vor allem im westlichen Teil des heutigen Kreises Viersen und im Mönchengladbacher Raum, aber auch im Willicher Stadtgebiet wurde schon seit dem Mittelalter Flachs angebaut. Die Verarbeitung von Flachs war wesentlich komplexer als die von Schafswolle und das Endprodukt, Leinen, ein gefragtes Produkt.

Viele Jahrhunderte lang war die Flachsverarbeitung am Niederrhein ein bestimmender Wirtschaftszweig. Doch seit den 1820er Jahren geriet sie immer mehr in Schwierigkeiten, da die hiesigen Leinenweber nicht mit den Preisen der Weber aus Böhmen oder Schlesien mithalten konnten. Sie wurden Opfer einer Art ersten, wenn auch kleinen Globalisierung. So sattelten viele Unternehmer unsere Region auf den neuen Rohstoff Baumwolle um. Im sonstigen Willicher Raum konnte sich die Baumwollweberei nicht durchzusetzen, da dieser im 19.Jahrhundert vollends in den Schatten der Krefelder Samt- und Seidenindustrie geriet.

Im Wortlaut:

Der Schweizer Alphons Thun bereiste in den 1870er Jahren den Niederrhein und forschte über die Lebensbedingungen der dortigen Arbeiter. Dabei kam er auch nach Anrath. Seine Analyse der Anrather Weberschaft ist aus heutiger Sicht schockierend:

Aber bei schlechten Konjunkturen genügt selbst die längste Arbeitszeit nicht; die Weber mit zwei bis vier unerwachsenen Kindern gerathen in Schulden und müssen regelmäßig die Armenpflege in Anspruch nehmen. Erst wenn zwei bis drei Kinder am Webstuhl sitzen, können die Schulden getilgt und Ersparnisse gemacht werden; wenn dann die Familie oder die Geschwister zusammenbleiben und eine ordentliche Wirthschaft führen, so ist das die Periode, wo ein Eigentum erspart werden kann. Es springt in die Augen, wie wichtig es für die Eltern ist, ihre Kinder so früh wie möglich zum Verdienst zu bringen, denn lange bleiben sie doch nicht bei ihnen; die Söhne heiraten oft mit 22-23 Jahren Mädchen von 18-19 Jahren; beide verlassen ihre Eltern und überliefern sie sammt den jüngeren Geschwistern wiederum der Noth. Mit der Geburt der Kinder werden die Eltern arm, mit ihrem Heranwachsen reich, mit ihrer Verheirathung verfallen sie wieder der Dürftigkeit.

Besonders dramatisch war die Situation der Weberkinder – auch hier fällt die Bilanz von Alfons Thun schonungslos aus:

Mit dem 14. und 15. Jahr beginnt für die Knaben das Weben, oft aber auch schon mit dem 11. und 12. Jahr und der Polizeidiener von Anrath hatte beispielsweise an einem Tage 14 Kinder zu holen, welche darüber die Schule versäumt hatten […]

Die frühzeitigen Ehen der Eltern, die frühe Arbeit der Kinder in gekrümmter Haltung und in überfüllten Räumen, der Branntweingenuss der Jünglinge haben in den eigentlichen Weberorten durch Vererbung bereits einen Weberstand mit all seinen specifischen Eigenschaften erzeugt.

Ein Weber von Kindesbeinen ist leicht zu erkennen: der Teint wächsern und matt, fast bleifarben, das Auge lebhaft, die Glieder schlank, die Arme fleischlos und dünn wie Kinderarme, die Hände zart und weiss, die ganze Gestalt athmet mehr Gewandheit als Kraft, der Mann ist ein Schwächling, mit fünfzig Jahren verschlissen’, ein Schwindsüchtiger.

Kein Wunder, wenn im Jahre 1872 in Kempen unter den Anrather Webern nur 15 Prozent tauglich waren; krumme Beine und Anlage zur Tuberkulose waren die häufigsten Ursachen.

Anrath als Webstube der Krefelder Seidenbarone

Mitte des 19. Jahrhunderts boomte die Samt- und Seidenindustrie. Die Krefelder Textilbarone fanden in ihrer Stadt bald keine Arbeitskräfte mehr und mussten ins Umland ausweichen. So wurde bald in nahezu allen Dörfern der Umgebung für Krefeld gewebt – vor allem aber in Anrath.

Hier stellten die Weber Mitte des 19. Jahrhunderts den größten Teil der Bevölkerung Wenn man den Webstuhlbestand im Krefelder Umland für 1852 zugrundelegt, standen damals in Anrath mehr Webstühle als sonst wo in der näheren Umgebung – es mögen insgesamt um die 700 gewesen sein.

Die Mehrheit der Anrather Weber arbeitete an Bandstühlen. Sie waren leichter zu bedienen, an ihnen konnte man schneller angelernt werden, die Qualitätsansprüche lagen niedriger, das verarbeitete Material, durchweg Samt, war nicht so teuer wie Rohseide. Gearbeitet wurde nach dem sogenannten Verlagssystem: Die Hausweber erhielten von den Krefelder Verlegern die bereits vorbereiteten Ketten. Diese wurden dann von den Weber noch einmal gereinigt und dann verwebt. Die fertigen Stoffe wurden dann wieder zur Weiterverarbeitung nach Krefeld gebracht.

Ein Weber trägt seinen fertigen Stoff nach Krefeld, um 1900.
Anrath und seine Umgebung waren für die Seidenbarone das, was man heute ein Billiglohnland nennt.

(Bild folgt)

Nur noch wenige alte Weberhäuser haben die letzten Jahrzehnte überdauert. Zu ihnen gehören jene der Familie Beckers auf der Meisfeldstraße / In der Silbert (links) und der Familie Horst auf der Buschstraße (rechts). Die Aufnahmen von Konrad Baches stammen aus dem Jahre 1988.

(Bild folgt)

Anrather Webstube um 1850.
Wie in fast allen Weberhäusern war die Stube zugleich Wohnraum, Küche und Arbeitsbereich. Auch der Junge am Spinnrad spiegelt die damalige Realität wider – die ganze Familie musste in der Webstube helfen.

3. Harmen und Lambert Doomer

Tafel 8

Dimbkespforte, Zeichnung von Lambert Doomer

Tafel 9

Harmen Doomer – Anrath goes Amsterdam

Harmens Doomer und sein Sohn Lambert sind die ersten „Promis“, die Anrath hervorbrachte. Die Tatsache, dass Harmens Doomer hier nur seine ersten 18 Lebensjahre verbrachte und sein Sohn die Heimat des Vaters wahrscheinlich nur einmal besuchte, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden.

Dank Lambert Doomer können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie Anrath vor rund 350 Jahren aussah – das können nur wenige Landgemeinden von sich behaupten. Seine fünf Zeichnungen des Ortes sind also nicht nur filigrane Kunstwerke, sondern auch wertvolle historische Quellen!

Hermans Doomer, der sich später Harmen nannte, wurde 1595 in Anrath geboren und lernte dort vermutlich auch das Tischlerhandwerk. Im Alter von 18 Jahren wanderte er aus nach Amsterdam, wo er anfangs als Tischler arbeitete und zahlreiche Prunkschränke und Bilderrahmen anfertigte.

Vor allem seine aus Ebenholz gefertigten Rahmen standen bei den Amsterdamer Malern, unter ihnen ein gewisser Rembrandt, hoch im Kurs, wodurch die Doomersche Tischlerei einen wahren Boom erlebte.

Harmen Doomer heiratete Baertge Martens und hatte mit ihr sieben Kinder. Er verstarb 1650 und wurde am 14. März in der Nieuwezijdskapel im Amsterdem begraben. Das von Rembrandt um 1640 gemalte Bildnis des Harmen Doomer befindet sich heute im Metropolitan Museum New York, das ebenfalls von Rembrandt stammende Bildnis seiner Frau in der Eremitage zu Sankt Petersburg.

Lambert Doomer – Zurück zu den Wurzeln

Lambert Doomer wurde im Februar 1624 als viertes Kind von Harmen Doomer und Baertge Martens in Amsterdam geboren. In der väterlichen Werkstatt wurde er zum Kunsttischler und Elfenbeinschnitzer ausgebildet. In den 40er Jahren erhielt er zudem eine malerische Grundausbildung, eventuell sogar von Rembrandt.

1645/46 unternahm er eine Bildungsreise, die ihn nach Nantes, ins Loiretal, nach Paris und schließlich Rouen, Le Havre und Dieppe führte. Auf dieser Reise entwickelte sich Doomer zu einem ausgezeichneten Landschaftszeichner, was sich in zahlreichen dort entstandenen Zeichnungen wiederspiegelt.

In den 50er und 60er Jahren unternahm er viele weitere Reisen, die ihn nach Arnheim, Nimwegen und Rhenen, aber auch an den Niederrhein und ins Mittelrheintal führten. Auf einer dieser Reisen besuchte er auch die Heimat seines Vaters Anrath. Dort entstanden fünf Zeichnungen: 1. Die Dymbkespoort zu Anrath (British Museum London)
2. Ostansicht des Wirtshauses zur Blauen Hand in Anrath (Rijksmuseum Amsterdam, Prentenkabinett)
3. Die Doomerspoort am Wirtshaus zur Blauen Hand (Berliner Kupferstichkabinett)
4. Nordostansicht des Wirtshauses zur Blauen Hand in Anrath (Städelsches Kunstinstitut Frankfurt)
5. Südansicht des Wirtshauses zur Blauen Hand in Anrath (Rijksmuseum Amsterdam)

1668 heiratete Lambert Doomer die aus Arnheim stammende Metje Harmens. In diesem Jahr malte er auch seine bedeutendsten Gemälde: Hannah und Samuel vor Eli (heute in Orleans) und Qucksalber (heute in Chalons sur Saone). Ein Jahr später zog er mit seiner Frau nach Alkmaar. Nach ihrem Tod im Jahre 1677 heiratete er erneut, diesmal Geesje Esdras. 1695 siedelte das Ehepaar nach Amsterdam zurück. Dort verstarb Lambert Doomer am 2.7.1700 im Alter von 76 Jahren.

Rembrandt van Rijn: Bildnis des Harmen Doomer, 1640
New York, Metropolitan Museum of Art
Lambert Doomer: Die Doomerspoort in Anrath, ca.1664
Kupferstichkabinett Berlin
Am rechten Bildrand liegt das Wirtshaus „Zur blauen Hand“, hinter dem Tor und der Steinmauer der Anrather Kirchhof. Im Hintergrund ist die Pfarrkirche gut zu erkennen.
Lambert Doomer: Das Wirtshaus zur Blauen Hand, ca. 1664
Rijksmuseum Amsterdam

Doomer zeichnete das Bild vom Anrather Heumarkt aus. Hinter der Steinmauer liegt der Kirchhof, im Hintergrund ist der Giebel des Schultheißenhauses (später Jean Schmitz) zu erkennen.
Seinen Namen hatte das Wirtshaus von den hier verkehrenden Blaufärbern. Das Gasthaus existierte schon um 1600 und gehörte damit zu den ältesten Anraths. Es war viele Jahrzehnte lang im Besitz der Familie Doomer.
An der Stelle des Wirtshauses wurde später ein neues Gebäude errichtet, welches ebenfalls viele Jahrzehnte lang als Gaststätte diente und uns vor allem unter dem Namen „Zum Dorfkrug“ bekannt ist.

4. Anrath unter der Tricolore

Tafel 10

Ansicht der Festung Anrath, ca. 1727, Radierung von Renier Roidkin
Roidkin war vom Grafen Ambrosius von Virmond mit der Zeichnung dessen Besitztümer beauftragt worden.

Tafel 11

Franzosenzeit

Nach Niederlagen der Österreicher 1794 bei Fleurus und Jülich zogen sich die Österreicher und Preußen vom linken Rheinufer zurück, so dass die Franzosen das Kurfürstentum Köln kampflos besetzen konnten – in Anrath wehte am 9.Oktober erstmals die Tricolore. Erste Überlegungen, eine der französischen Republik wohlwollend gesonnene „Cisrhenanische Republik“ zu gründen, wurden bald wieder fallengelassen, stattdessen beschloss man in Paris die Annektion der Gebiete. Das Heilige Römische Reich verzichtete im Frieden von Campo Formio 1797 auf das linke Rheinufer, völkerrechtlich wurde das Rheinland jedoch erst 1802 durch die im Frieden von Luneville getroffenen Regelungen französisches Staatsgebiet.

Im Wortlaut:

Der Franzos war nit so bös, als man glaubte, gütiger als der Teutsche.

Mit Schmeicheln bekommt er Alles,
mit Schläg der Teutsche.Pfarrer Johannes Camp (Willich), 1794

Die Zusammensetzung der Mairien (Bürgermeistereien) war äußerst willkürlich – so wurde das Dorf Anrath mit Clörath, Kehn und Neersen zur Mairie Neersen vereinigt, das Umland von Anrath wurde sogar eine selbständige Mairie – Kleinkempen. Beide Bürgermeistereien gehörten zum Kanton Neersen, jener wiederum zum Arrondissement Krefeld und über allem thronte das Departement de la Roer mit Sitz in Aachen.

Seit 1802 waren die Anrather offiziell französische Staatsbürger – für sie begann eine neue Epoche: So wurde der Adel als Stand abgeschafft, die feudalen Lasten entfielen ersatzlos und die Bürger waren einem einheitlichen Recht unterworfen. Auch die Abschaffung der verkrusteten Zünfte, Innungen und Gilden, die Einführung der Gewerbefreiheit, die Modernisierung der Landwirtschaft und der Ausbau des Straßennetzes hinterließen durchaus einen positiven Eindruck.

Im Wortlaut:

Sie sind einfach gewandet und tragen Kleidung aus grobem Stoff bzw. Leinen. Sie ernähren sich von sehr schwarzem Roggenbrot, Kartoffeln, Kohl, Kalbfleisch sowie gepökeltem Schweine- und Rindfleisch. Sie trinken Bier und Wacholderschnaps; die Pfeife verlässt selten ihren Mund.

Die Frauen, Gebieterinnen im Haus, lieben sehr den Tee und den Kaffee; sie trinken ihn schwach, aber in großen Mengen. So robust und mutig wie sie sind, benötigen sie keine ärztliche Kunst bei der Entbindung.Bericht über die Anrather Bevölkerung, 1803

Der Großteil der kurkölnischen Bevölkerung wollte aber gar nicht vom Joch des Feudalismus befreit werden – sie hatten sich im Laufe der Jahrhunderte an ein Leben unter dem Krummstab gewöhnt. Der Landesvater in Brühl wurde von den Menschen nur aus weiter Ferne wahrgenommen. Jetzt sahen sie sich einer äußerst effizienten Staatsverwaltung gegenüber, deren Beamte tatsächlich die Kontrolle aller Lebensbereiche anstrebten. Unbeliebt machten sich die neuen Herren aber vor allem mit der Einführung der Wehrpflicht, die bei den eher unmilitärischen Rheinländer überhaupt nicht gut ankam.

So wurde der Rückzug der Franzosen zu Beginn des Jahres 1814 von den meisten Menschen begrüßt. Die nachfolgenden Preußen hatten jedoch das Problem, dass die Rheinländer nicht bereit waren, auf die positiven Errungenschaften der Franzosenzeit zu verzichten.

Napoleon Bonaparte, Gemälde von Jacques-Louis David, 1812
Seit 1802 waren die Anrather französische Staatsbürger und damit Untertanen des Kaisers. Das brachte ihnen aber nicht nur Rechte, sondern auch schmerzliche Pflichten wie den Dienst in der „Grande Armée“. Gerade der Tod vieler rheinischer Soldaten im Russland-Feldzug trug zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung bei.
Die Schlacht von Valmy, Radierung von Antoine Hugo, 1835
Am 20.September 1791 bremsten die französischen Revolutionstruppen bei Valmy den Marsch der Koalitionsarmee auf Paris. Nach dem Rückzug der Alliierten gingen die Franzosen in die Offensive über und eroberten das gesamte linke Rheinland. Goethe war Augenzeuge der Schlacht und bewies Weitblick: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“
Den Franzosen verdanken wir die erste topographische Aufnahme der Rheinlande: Zwischen 1801 und 1814 wurde sie auf persönlichen Befehl Napoleons unter dem Kommando des Oberst Jean Joseph Tranchot vorgenommen. Es dauerte jedoch bis 1828, ehe das Projekt vollständig abgeschlossen war.
In der Darstellung sind die vier dominierenden Straßen um den Kirchplatz gut zu erkennen.
Wurden Geburten, Heiraten und Sterbefälle zuvor nur vom Pfarrer erfasst, so führten die Franzosen 1798 im linken Rheinland die staatlichen Zivilstandsregister ein.
Die vorliegende Geburtsurkunde stammt aus dem Jahre 1807 und ist in der französischen Amtssprache verfasst. Auch die deutschen Namen wurden entsprechend geändert – und so wurde aus dem Kind Peter Heinrich „Pierre Henri“.

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